Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Herr Friedrich auf das Zimmer, die » Stube«, wie sie es nannten, und zog bei allen Jungen mit einem Ruck die Bettdecke fort. » Deine Füße sind ja rabenschwarz«, pfiff er Hans an, so streng wie die Jungen ihn nie zuvor gehört hatten, » wann hast du die denn zuletzt gewaschen?« Hans zitterte, druckste, sagte » vorgestern« und wurde zum Waschen in den Keller beordert. » Das mir das nicht noch einmal unterkommt! Und morgen, bevor wir losgehen, will ich eure Hände sehen! Keine Trauerränder, klar? Und nicht vergessen: Pünktlich sein!«
Am Sonntag mussten sie ihre Ausgehuniformen anziehen, kurze schwarze Hosen, schwarze Hemden, schwarze Halstücher, auf den Köpfen schräg sitzende Käppchen, und ihre Schuhe blank putzen. Zwanzig weiße Chrysanthemen wurden, zu einem Strauß gebunden, von einem Blumenhändler aus München geliefert, und es wurde ausgelost, wer sie überreichen dürfte.
Im Musiksaal des Tutzinger Schlosses drängten sich am Nachmittag in Trachtenanzügen die Männer, in hellen, geblümten Kleidern oder Dirndln die Frauen, die Honoratioren Tutzings, Feldafings und Starnbergs, dazu alle Bäcker, Fleischer, Schuster, Schneiderinnen, die Eltern der BDM -Mädchen, die Tänze und Reigen aufführen sollten, und fast alle Lehrer und Schüler der Reichsschule Feldafing. Alle reckten die Hälse, sahen zur aufgebauten Bühne, mit den frisch geschnittenen Zweigen, dann wieder zum Saaleingang, und warteten gespannt auf Elly Ney.
Sie betrat vorn von der Seite her den Saal, in dem alles augenblicklich verstummte: eine große, kräftige Frau mit vollem, grauem Haar, das wie eine Aureole ihr ebenfalls großes, männlich anmutendes Gesicht umgab, in einem langen, wallenden Gewand aus schimmerndem schwarzen Samt, auf der mächtigen Brust eine lange Kette aus schweren Gliedern. Sie trat vor das Publikum und erhob die rechte Hand zum Hitlergruß. Stühle scharrten, alle sprangen auf und reckten die Arme. Julius verfolgte das Geschehen. Der Bürgermeister sprach, gefolgt von Schulleiter Julius Goerlitz, die alte Dame saß würdevoll steif auf ihrem Platz in der ersten Reihe und nahm die Huldigungen nickend entgegen: Das Landsknechtständchen des Knabenchors der Reichsschule Feldafing, gefolgt vom Lied Immer, wenn Soldaten singen sowie Und der Hans schleicht umher, weitere Glückwünsche, zwanzig weiße Chrysanthemen, einen bunten Wiesenstrauß, ein Lobgedicht der NS -Frauenschaft Tutzing, Ländler und Reigen des Bundes Deutscher Mädchen Starnberg, jeweils bedacht von starkem Applaus der anwesenden Gemeinde. Kaum waren die Mädchen von der Bühne verschwunden, bauten ein paar Helfer Notenständer und Stühle für die Streicher auf, die Elly Ney begleiten sollten.
Große, abwartende Stille. Einen Augenblick lang geschah gar nichts, bis sich schließlich Elly Ney erhob. Alle Blicke hingen an ihr. Wie eine Walküre durchmaß sie mit ihrem wallenden Gewand den Weg zur Seite der Bühne, stieg das Treppchen empor und schritt zum Bechstein-Flügel, der schwarz und groß und erhaben glänzte. Sie hielt einen Moment lang inne, deutete eine Verneigung zum Instrument hin an und entzündete zwei lange weiße Kerzen, die darauf standen. Sie wandte sich zum Publikum, das mucksmäuschenstill war. Ihre Augen standen weit auseinander, ihre Nase stach sehr gerade und voller Ausdruckswillen hervor, ihre Lippen waren schmal, aber weit geschwungen.
» Bevor ich beginne, möchte ich ein paar Worte des Dankes sagen, für die mir erwiesene Ehre und das entzückende Ständchen. Ich weiß es zu schätzen, wie viel Mühen und wie viel Arbeit in jedem einzelnen Vortrage stecken« – sie ließ den Blick durch den Saal gleiten, als suchte sie Augenkontakt zu jedem einzelnen, – » und ich schätze ebenso sehr, dass ich in Tutzing stets die Ruhe und Zurückgezogenheit finden kann, die ich für meine konzentrierte Arbeit brauche.«
Die Leute wollten klatschen, doch sie hob die Arme in beschwörender Geste. Ihre Stimme war dunkel, sie sprach etwas schleppend.
» Ich beginne mit der Cavatine aus dem Streichquartett No. 130 von Ludwig van Beethoven.«
Applaus brandete auf, jemand wisperte » was für ein Antlitz!«, die Streicher betraten die Bühne.
» Wie die Ludwig van gehaucht hat«, sagte Paul seinem Freund Julius leise ins Ohr.
Elly Ney spielte Beethoven, sie spielte Schumann, und sie spielte das Forellenquintett von Schubert. Sie spielte kraftvoll mit weit ausgestreckten Armen, und manchmal schloss sie die Augen bedeutsam und hob
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