Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Ach, mein Julius, wird deine Mutter vielleicht gedacht haben, wann ist dieser Krieg endlich zu Ende? In seinem vierten Jahr ist er nun schon.
Julius ist seit vier Monaten in der Schule und hat sich gut eingelebt, da gibt es im Januar 1943 schwere Angriffe auf München. Jagdflieger, Bomber, Luftminen, Phosphorbomben, Stabbrandbomben. Die Innenstadt steht in Flammen, München leuchtet glühendrot, weit über die Stadtgrenzen hinaus, die Jungen können es von Feldafing aus sehen, so erzählen es später Mitschüler, die noch am Leben sind, Helen, als diese sie befragt. Sie befragt sie auch, weil sie es nicht glauben mag, dass die Jungen in die Oper geschickt wurden, mitten im Krieg, und weil es doch diesen Brief von Julius gibt.
Ende Januar müssen die Deutschen sich vor Stalingrad geschlagen geben, das heißt, sie stellen die letzten Kampfhandlungen ein, am 2. Februar 1943, eine offizielle Kapitulation gibt es nicht. Hitler tobt. Generalfeldmarschall Friedrich Paulus verweigert Hitlers Befehl, Suizid zu begehen, um nicht als hoher Offizier zum Kriegsgefangenen der Sowjets zu werden. Paulus erwidert, er wolle die Soldaten nicht im Stich lassen, und wird gefangen genommen. Im deutschen Rundfunk wird die Operette Die lustige Witwe von Lehár rauf und runter gespielt. Stalin und Roosevelt fordern von Deutschland die bedingungslose Kapitulation. Deutschland aber ist noch weit davon entfernt.
Ein guter Zeitpunkt, mit den Jungen in die Oper zu gehen?
Liebste Mama,
heute waren wir in der Sonntagnachmittagvorstellung vom Lohengrin . Die Vorstellung fing um sechzehn Uhr an, wegen der Verdunkelung. Das Haus war ausverkauft, wir saßen ziemlich weit oben. Cäcilie Reich hat die Elsa gesungen, ganz licht und schön, und Horst Taubmann heißt der Lohengrin-Sänger, aber ich muss gestehen, am meisten hat mich die böse Ortrud beeindruckt, Georgine von Milincovic, ich habe mir die Namen extra notiert. Es war markerschütternd! Und im Grunde hat Ortrud doch recht, wenn sie Elsa sagt, sie solle einmal fragen, woher Lohengrin kommt und wie er heißt. Die stärkste Stelle war für mich, als Ortruds Mann Telramund ihr vorwirft, sie hätte ihn belogen, damit er sie heiratet und nicht Elsa, da singt sie: » Ha, wie du mich kränkst!«. Mir ist ganz anders geworden. Ich werde es niemals vergessen, liebste Mama, diese Oper nicht und auch nicht die sonderbarste von den dreien, Tiefland , ich habe dir ja davon erzählt. Die Farben! Die Chöre! Überwältigend. Es war wie bei der Parade auf dem Odeonsplatz, als Mussolini zu Besuch kam, nur noch viel schöner natürlich, wegen der Kostüme und der großen Musik.
Julius schreibt im Ton der Zeit. Er schreibt nicht von den merkwürdigen Anschlägen, die er vom Bus aus bei der Fahrt durch die Innenstadt doch gesehen haben muss, auf denen in schwarzen Lettern Nieder mit dem Führer! steht. Denn in derselben Woche, in der die Jungen mit dem schuleigenen Bus, » ihrem Bus«, einem Mercedes Baujahr 1932, von ihrer Feldafinger Schule nach München in die Oper und zurück gefahren werden, verteilen die Geschwister Hans und Sophie Scholl, er vierundzwanzig, sie einundzwanzig Jahre alt, zusammen mit ihrem Freund Christoph Probst dreitausend Flugblätter gegen Hitler. Sie schreiben Parolen an die Häuserwände. Sie fordern ihre Mitstudierenden zum Widerstand gegen den Tyrannen auf, der nicht nur über dreihunderttausend Soldaten in Russland in den Tod gehetzt hat, sondern das ganze Land, die ganze Jugend, verdummt, narkotisiert, benutzt und in einer Diktatur unterdrückt, vor der das Leben des einzelnen nichts gilt. Sie werden verhaftet, zum Tode wegen » Hochverrats« verurteilt und am selben Tag noch getötet, mit der Guillotine, man hackt ihnen die Köpfe ab, wie im Mittelalter, am 22. Februar 1943.
Wir kriegen jetzt jeden Tag ein Stück Schokolade, weil der Vater von Ludwig eine Fabrik besitzt und uns welche zukommen lässt. Es geht mir also prächtig, und ich grüße dich und Vater, wie immer, dein Julius.
In der Schule verändert sich das Klima. Die ersten Lehrer werden eingezogen. In Feldafing und Tutzing werden Feldlazarette für die verwundeten Soldaten eingerichtet, die von der Front zurückkommen. Die Jungen geben nun kleinere Konzerte für die verwundeten Soldaten im Feldlazarett, leichte Märsche und heitere Melodien.
Lieber Tommy, fliege weiter,
hier wohnen nur die Ruhrarbeiter.
Fliege weiter nach Berlin,
die haben alle ›ja‹ geschrien!
An einem Abend Anfang März, es ist sehr
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