Der Tag ist hell, ich schreibe dir
das schmerzlich verzogene Gesicht leicht nach oben, als käme die Musik von dort. Die Streicher, darunter ihr eigener Ehemann, spielten ihr ergeben zu. Der Saal tobte, man sprach von einer Sternstunde, und davon, dass sich die Musik unter den Händen der Künstlerin nachgerade entmaterialisiert habe, und dass man sie gehört habe wie nie zuvor.
Julius aber wälzte sich nachts auf seinem Bett hin und her, wütend und ernüchtert, dass er so viel Klavier würde üben können, wie er nur wollte: er würde niemals auch nur annähernd gut genug sein, um solche Stücke spielen zu können, geschweige denn sie vor anderen Menschen erklingen zu lassen. Die Vorstellung hatte ihn tief beeindruckt, insbesondere das Stück von Schumann, das er verwirrend und schön zugleich fand. Doch es hatte etwas in der Art der Verehrung der alten Dame und in ihrem Gebaren gegeben, das ihn unangenehm berührte. Er fand ihre Gesten unecht, und was sie vor dem Schumann mit ihrer volltönenden Stimme vorgetragen hatte, in dem vom Wesen der Wahrheit in der Musik die Rede gewesen war, von Leid und Schmerz und deutscher Innigkeit, hatte er höchst sonderbar gefunden, und eigentlich recht peinlich. Im Ruhrpott, dachte er, haben die Leute doch ein anderes Gespür für falsche Töne und Getue.
4 Hering, so fett wie Göring
» Jede Liebe, die frei macht, ist schön. Oder nicht?«
Julius, am Telefon.
Die Liebe zur Musik, die Liebe zur Geschichte, die Liebe zu einem Menschen?
Hering, so fett wie Göring … hart wie Kruppstahl …
Helens Vater hatte ihr immer wieder solche Wendungen beigebracht, von früher. Schon als sie klein war und ihn zum Einkaufen begleitete, hatte er ihr Sprüche und Witze aus der Nazizeit erzählt, die ja auch die Zeit seiner Kindheit und Jugend gewesen war, Hering, so fett wie Göring, das hatten die Marktfrauen geschrien, und warum, liebes Lilchen? Weil der Hering so dünn war, weil im Krieg selbst die Heringe nüscht zu fressen hatten, und das sollte ein Scherz sein, denn Göring, der Reichsmarschall Göring, der war so fett, dass sein Bauch über die Gürtelschnalle quoll, was ja eine Frechheit war, der hatte zu fressen, und wir leckten an einem dürren Hering, dem berühmten Streichhering.
Und dann lachte Helens Vater, und Helen lachte mit, weil ihr Vater so lustig war und so komische Sachen erzählte, und sie sangen Oh grande Mussolini, Heil der Faschistico, aber dass du mir das niemals vor anderen Leuten singst!, sagte Helens Vater, und Helen nickte, und dann sangen sie zum Ausgleich auch noch Bolle reiste jüngst zu Pfingsten, nach Pankow war sein Ziel. Det darfste singen, det is o. k..
Und vielleicht war es ja die gefühlte Nähe zu dieser Zeit in Julius’ Leben, weil Helens Eltern zum selben Jahrgang gehörten wie er und diese Schicht in ihnen für Helen so nah und greifbar und bestimmend war wie die Gewohnheiten und Anekdoten ihres Großvaters, den sie liebte und der ihr alles erzählte, woran er sich erinnern konnte. Eine gefühlte Nähe zu einer so schwierigen Zeit, sodass Helen später ihre Nase immer wieder in die Bücher über das Dritte Reich stecken musste. Sie blätterte Bildbände durch, sah alte Filme an, befragte ihre Mutter, ihren Vater, die Geschichte und war traurig, als sie Julius nicht mehr danach fragen konnte, denn als er in jenes Alter gekommen wäre, in dem sich die Menschen wieder ganz genau an ihre Kindheit erinnern können, war er nicht mehr da; sie war sich sicher, dass viele Dinge, die er dachte oder tat, wie auch bei ihren Eltern, wie vielleicht bei jedem Menschen, mit seiner Kinder- und Jugendzeit zusammenhingen, wie Doderer es so schön mit dem Bild von dem Eimer gesagt hatte, aus dem es immerzu an einem herunterrinnt, auch wenn sich der Inhalt dieses Eimers vielfältig zusammensetzte und die Folgen sich keineswegs geraden Wegs und eins zu eins fortsetzten und verstehen ließen.
5 Von der Liebe
23.2.1943
Liebste Mama,
in der Carmina Burana geht es um die Liebe. Die Venus verkörpert sie. Die Liebe ist für den Menschen eine wichtige Sache.
Ich stelle mir vor, wie deine Mutter schmunzelt, als sie die Zeilen ihres dreizehnjährigen Sohnes liest. » Die Liebe ist für den Menschen eine wichtige Sache«, das muss sie Julius’ Vater erzählen, wenn er tief in der Nacht nach Hause kommen wird, der scheint diesen Umstand vergessen zu haben, er arbeitet Tag und Nacht. Er ist nicht eingezogen worden, weil er für die Logistik der für die Rüstung bedeutsamen Industrie zuständig ist.
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