Der Tag mit Tiger - Roman
undlinks von der wütend funkelnden Nina und versperrten ihr den Weg mit Tatzenhieben. Die beiden hatten sie noch nicht entdeckt, und diesmal nutzte sie ihren Vorteil ganz kühl aus.
Mit einem tierischen Schrei katapultierte sie sich auf den näher zu ihr stehenden schwarzbärtigen Tim. Noch in der Bewegung freute sie sich über die Kraft und die Lautstärke ihrer Stimme. Die war auch für die anderen Beteiligten eine Überraschung, und so konnte sie sich zwischen Nina und ihren vorderen Angreifer drängen. Sie drehte der Kätzin und Tammy den Rücken zu, in der Hoffnung, dass sie und Tiger schon mit dem Widersacher zurechtkämen. Dann richtete sie sich auf und hob die krallenbewährten Pfoten in perfekter Angriffsstellung.
Tim war ein schneller, kampferprobter Gegner, den das mörderische Geschrei nur für einen kurzen Moment abgelenkt hatte. Er wandte seine Aufmerksamkeit von der eher harmlosen Nina sofort ab und widmete sich Anne. Mit angelegten Ohren und verengten Augen erhob er sich.
Beide fixierten sich, bewegungslos.
Blitzschnell schoss plötzlich seine linke Pfote vor und zog Anne die Krallen über die Nase. Nur ein geschicktes Ausweichen rettete ihr das Augenlicht. Sie spürte zwar einen Schmerz, der sie aber nicht störte.
Beide Gegner waren wieder in ihre Ausgangspositionen zurückgegangen und knurrten sich an.
»Ablenken«, dachte Anne und fauchte.
Tim fauchte zurück, und wieder schossen die Krallen vor, trafen aber diesmal nicht. Anne war zur Seite gesprungen und zog ihm jetzt, in dem winzigen Augenblick, den er nach dem unwirksamen Schlag aus dem Gleichgewicht geraten war, kräftig die Tatze über das linke Ohr.
Das Kampfgetümmel im Hintergrund registrierte Anne nur nebenbei und ging wieder in Angriffshaltung.
Tim war es nicht gewöhnt, Hiebe von Schwächeren einzustecken. Es traf seinen empfindlichen Stolz. Er wurde zum Berserker.
Kreischend und fauchend stürzte er vor, Mord im Blick. Er versuchte, dieses magere, graue Ding zu einem blutigen Fellbündel zu zerfleischen. Warum trafen seine Hiebe nur immer ins Leere?
Anne bewegte sich rückwärts, immer ausweichend, doch mit einem festen Ziel im Sinn. Es war gefährlich, denn der Angreifer meinte es ernst. Das war kein Trainingsgeplänkel. Wozu aber hatte man denn einen schwarzen Gürtel, wenn nicht wenigstens etwas Nützliches hängengeblieben wäre? Einen zweiten Kratzer musste sie noch einstecken, dann war es so weit.
Sie stand auf dem schmalen Damm an der Stelle, wo die Kinder den Stausee gebaut hatten. Als der nächste Angriff kam, empfing sie Tim mit einem weiteren, markerschütternden Schrei, sprang in hohem Bogen über ihn auf das Ufer, war auf seiner rechten Seite und schlug ihm diesmal über das rechte Ohr. Dann drehte sie sich um und trat ihn mit beiden Hinterpfoten kräftig in die Flanke. Das war zwar einer Katze nicht würdig, verfehlte aber seine Wirkung nicht. Tim verlor das Gleichgewicht, wollte sich noch festkrallen, doch der sandige Boden bot keinen Widerstand, und so flog er aufjaulend in den See. Es war nicht besonders tief, aber kalt, und da er derartig überrascht war, schluckte er eine ordentliche Portion Wasser.
Tiger und Nina hatten in diesem Augenblick auch Tammy deutlich gemacht, dass ein Fortsetzen des Kampfes nicht sinnvollwäre. Er zog sich daher, zwar unverwundet, aber geknickt an Stolz und Würde, in die Büsche zurück.
Also standen Tiger, Anne und Nina am Ufer und beobachteten, wie der triefende, an beiden Ohren blutende Tim aus dem Wasser stieg.
»Ich denke, das Thema ›Schlappohren‹ ist damit erledigt«, bemerkte Nina laut und deutlich.
Nichts ließ darauf schließen, dass Tim diesen Hinweis gehört hatte.
Als der angeschlagene Kater außer Sichtweite war, drehte sich Nina zu Anne herum.
»Danke, Anne. Und entschuldige bitte mein hässliches Benehmen von heute früh.«
»Macht nichts, gern geschehen.«
Tiger ging auf Anne zu und stupste sie leicht mit seiner Nase. »Gut gemacht. Das war zwar kein reiner Katzenstil, dieser letzte Tritt, aber man wird sich den Trick merken müssen. Jetzt wollen wir deine Kratzer behandeln. Kommt, wir gehen zum Holunderbusch zurück, da ist es etwas kühler.«
Gemeinsam schlenderten sie gemächlich zurück und suchten sich einen Platz im Schatten des Buschs. Nina setzte sich neben Anne und begann sanft, aber bestimmt den Kratzer an ihrer Pfote zu lecken. Tiger legte sich vor sie und schlappte ihr schon fast zärtlich das Blut von der zerschrammten Nase.
Anne
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