Der Talisman (German Edition)
ein Wunder. Am Abend kam endlich eine leichte Brise auf. Erleichtert legte er das Ruder zur Seite und hisste die Segel. Dann schaute er auf den Kompass und nahm Kurs auf Cabeluda. Bei dieser Geschwindigkeit würde er in zwei, spätestens drei Tagen dort ankommen.
Regelmäßig ging Yasha in die Kajüte, um nach dem Riesen zu sehen. Sein Zustand war unverändert. Er lag noch immer ohnmächtig in der Hängematte. Yasha legte ihm seinen Talisman auf die Brust. »Hilf ihm!«, flehte er. »Ich muss wieder nach oben, das Schiff steuern.« Es war der Abend des dritten Tages. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie Cabeluda erreichen würden. Yasha schaute auf die Seekarte von Manolo Groß: »Cabeluda nur von Norden ansegeln, denn …« Mehr konnte der Junge nicht entziffern. An dieser Stelle war die Karte verwischt.
Gegen Mitternacht näherten sie sich einer rauen Küste. Hohe Wellen brachen sich an den vielen Klippen. Der Wind blies das Wasser zu hohen Säulen auf. Das Boot könnte an einem der Felsen leckschlagen und kentern. Entsetzt holte Yasha die Segel ein und warf einen schnellen Blick auf den Kompass. »Mein Gott!«, dachte er. »Ich fahre die Insel von der falschen Seite an und bin schon viel zu nahe am Ufer!«
Das Boot wurde wie eine winzige Nussschale hin- und hergeworfen. Yasha umklammerte das Steuerrad und manövrierte das Boot vorsichtig um die spitzen Klippen. Da hörte er aus der Kajüte lautes Stöhnen. Durch die Luke sah er den Riesen, der in der Hängematte gegen die Wände geschleudert wurde. Mitten auf seiner Stirn prangte eine große, blutige Beule. Mühsam richtete sich der Riese auf und kroch benommen die Treppe hoch: »Das ist die weiße Böe, ein sehr gefährlicher Wind, der von den Klippen herunterfegt! Du Pechseele! Ändere sofort den Kurs auf West-Nord-West.« Dann fiel er zurück in die Kajüte.
Mit Mühe
riss Yasha
das Steuerrad herum. Das Boot stöhnte und ächzte, die Wellen schlugen über die Reling. In gewaltigen Strömen lief das Wasser über die Treppe in die Kajüte. »Wir sinken!«, brüllte Yasha. »Talisman! Hilfe!« Da erinnerte er sich, dass er seinen Talisman dem Riesen auf die Brust gelegt hatte. Wie von Sinnen raste er nach unten. Der Riese hockte in einer Ecke auf dem nassen Boden und drückte sich sein schwarzes Piratentuch auf die schmerzende Beule. Von ihm konnte Yasha keine Hilfe erwarten. Das Wasser stand schon knöchelhoch in der Kajüte. Darin schwammen Taue, Netze, Flaschen und auch die Wolldecke des Riesen. Wie sollte er in diesem Durcheinander den Talisman finden? Yasha ging auf die Knie und tastete hektisch den Boden ab. Dabei stieß er mit dem Kopf an die Hängematte. Es tat nicht weh, aber er hatte gemerkt, dass etwas darin lag. Natürlich, warum war er nicht gleich darauf gekommen? Man konnte den Talisman sogar durch den Stoff leuchten sehen, wenn man genau hinsah! Glücklich nahm er seinen Schatz an sich und küsste ihn: »Oh Talisman! Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche auf der Insel Cabeluda zu sein.« Dann fiel Yasha in Ohnmacht.
Als er wieder zur sich kam, lag er in einem kleinen Bambushäuschen. Neben ihm hockte der Riese und hielt Yashas Hand vorsichtig in seiner riesigen Pranke. Als er merkte, dass Yasha aufwachte, kullerten die Tränen wie ein Tropenregen aus seinen großen Augen. »Du Pechseele! Du hast mir das Leben gerettet. Jetzt wirst du für immer bei mir bleiben!«, schluchzte er gerührt. »Diese Insel soll deine sein. Mein Haus soll deines sein. Alles, was ich habe, soll dir gehören.« Liebevoll tätschelte er Yasha den Arm. Dann erhob er sich, um Yasha einen Kakao zu holen. Als der Riese mit dem dampfenden Becher in der Hand zurückkam, war der erschöpfte Junge tief und fest eingeschlafen.
»Wo bin ich?«, flüsterte Yasha, als er am nächsten Morgen erwachte. Der Riese schaute ihn fragend an. »Wo sind meine Eltern? Wo ist Steju? Sag es mir! Mein Vater ist Zauberer und hatte sich in einen Stein verwandelt, als das Schiff, mit dem sie aus Brasilien kamen, hier vor Cabeluda versank. Er ist immer noch ein Stein und nur mein Talisman kann ihm helfen, sich wieder zurück in seine menschliche Gestalt zu verwandeln.« »Ja, ja!«, sagte der Riese und streichelte dem Jungen sanft über die Stirn. »Alles ist gut. Schlaf noch ein bisschen, mein Seelchen!«
Durch die liebevolle Pflege des Riesen erholte sich Yasha schnell. »Du hast so viele Dummheiten erzählt, du Märchenerzähler! Ach, mein kleiner Retter, Yasha-Seele!«,
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