Der Talisman (German Edition)
wurde glühend heiß.
Und Yasha wusste,
dass er nun alles erfahren würde. »Es, es war vor zwei Jahren«, stotterte Alumentai, »als die Staccota-Schwärme kamen. Alle waren auf See. Ich musste allein im Dorf bleiben. Seit ich auf eine giftige Koralle getreten bin, kann ich kaum noch laufen. Da segelte ein Schiff von Osten her auf die gefährliche Geisterbucht zu. Das war schlimm, aber ich konnte sie nicht warnen.« Dann beschrieb die alte Frau, wie das Schiff an den Klippen zerschellte und sank. Vom Dorf aus beobachtete sie, dass sich eine Frau und ein Junge in die Geisterbucht gerettet hatten. Alumentai schrie: »Kommt her, hier seid ihr in Sicherheit! Kommt hierher!« und zündete eine Fackel an, damit die Schiffbrüchigen sie sehen konnten. Aber die beiden Fremden reagierten nicht und die alte Frau konnte nicht zu ihnen in die Bucht hinunterklettern. Ihre kranken Beine hätten sie nie bis dorthin getragen. Verzweifelt rief sie und schwenkte dabei ihre Fackel. Aber es half nichts. So schleppte sich die alte Frau traurig in ihre Hütte. Am nächsten Morgen waren die Schiffbrüchigen noch immer in der Bucht. Wieder rief Alumentai, aber die Frau und der Junge blieben unten am Strand und umklammerten einen seltsamen Felsen, der so aussah wie ein steinerner Mensch. Alumentai war verzweifelt. Die Inselbewohner würden erst in einer Woche vom Fischen zurückkommen und den Fremden helfen können.
Am selben Abend, es war bereits stockdunkel, hörte sie ein leises Klopfen. Mühsam erhob sich die alte Frau und schlurfte zur Tür. Vor ihr stand der Junge aus der Bucht. Er sah ganz verstört aus und bat schüchtern um etwas zu essen. Alumentai führte ihn in ihre Hütte. Dann deutete sie auf den wackligen Holztisch und schob dem Jungen den Teller mit der dampfenden Fischsuppe hin, die sie eigentlich zum Abendbrot hatte essen wollen. Während Alumentai ein Bündel mit Lebensmitteln zusammenschnürte, erzählte ihr der Junge, warum die fremde Frau nicht ins Dorf kommen wollte. Sie wollte bei ihrem Mann bleiben. »Aber da ist doch kein Mann in der Bucht, da ist doch nur ein hoher Stein?«, unterbrach ihn Alumentai. »Ja, genau, das ist ja das Schlimme!«, antwortete der Knirps einsilbig, während er hungrig die heiße Suppe schlürfte. Die alte Alumentai schüttelte verwundert ihren ergrauten Kopf. Das mit dem Steinmann verstand sie nicht. Als der Junge seine Suppe fertig gegessen hatte, reichte ihm die alte Frau das Bündel. Darin waren Brot, getrockneter Fisch, eine Flasche Wasser und zwei warme Decken.
Am nächsten Tag ankerte ein Schiff aus Brasilien auf der anderen Seite der Insel. Alumentai beobachtete, wie der fremde Junge eilig zwischen der Geisterbucht und dem Nordstrand hin- und herflitzte. Dann kam der Junge hoch ins Dorf, um sich von Alumentai zu verabschieden. Er erzählte ihr, dass er nach Europa fahren müsse. Sein Ziel war die Stadt Budapest in Ungarn. Hier sollte er nach einem Jungen namens Yasha suchen. Dieser Yasha hätte einen Talisman, dessen magische Kräfte den Mann in der Bucht wieder in einen Menschen zurückverwandeln könnten. Zuletzt bat der Junge Alumentai, für die unglückliche Frau in der Bucht zu sorgen. »Sie heißt Clara«, rief er noch, während er davonlief. Dann bestieg er das Schiff und fuhr fort.
Von nun an kam die fremde Frau jeden Abend hoch ins Dorf. Sie aß und schlief in der Hütte bei Alumentai. Da keine die Sprache der anderen sprach, verständigten sich die beiden Frauen mit Gesten und Blicken. Das reichte für die alltäglichen Dinge wie essen, trinken und schlafen aus. Aber Alumentai bedauerte sehr, dass sie sich mit ihrem Gast nicht über den geheimnisvollen Steinmann unterhalten konnte.
Jeden Morgen stieg
Clara Dvorach
den steinigen Pfad in die Bucht hinunter und blieb bis zum späten Abend bei ihrem Mann aus Stein. Eines Tages erschien sie früher als sonst in der kleinen Hütte und weinte ganz furchtbar. Alumentai wollte sie trösten, doch Clara zog die alte Frau zur Tür und deutete aufgeregt auf die leere Bucht. Der Steinmann war verschwunden! Einfach fort! Seine Frau war so unglücklich, dass Alumentai befürchtete, sie würde wahnsinnig werden. Als einige Tage später wieder ein Schiff vor Cabeluda ankerte, schien Clara einen Entschluss gefasst zu haben. Tränen strömten über ihr Gesicht, aber sie versuchte tapfer zu lächeln, als sie der Alumentai einen glitzernden Spiegelstein reichte. Mit dem Finger deutete sie auf die winzigen eingeritzten Buchstaben. Dann
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