Der Talisman (German Edition)
kannst, du kannst! Seitwärts drehen! Ohren zuhalten und durch!«, flüsterte Yasha sich zu und holte tief Luft. Er fühlte, wie das eiskalte Wasser auf ihn herabprasselte. Es dröhnte in seinen Ohren. Der Wasserfall versuchte, ihn zurückzudrängen, aber Yasha stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Plötzlich gab das Wasser den Weg frei.
Hinter dem Wasserfall
lag ein
zauberhafter Ort. Heller Sonnenschein fiel von außen durch den Wasserfall und schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Wie ein Samtteppich bedeckten dicke, grüne Moospolster den Boden. Die großen, mit Moos bewachsenen Steine ragten wie runde Skulpturen aus dem Boden. Dazwischen blühten rosa und hellblaue Blumen, die in einem kaum spürbaren Wind zitterten. Bunte Eisvögel flogen so nahe an Yasha heran, dass er ihre weichen Federn an seinen Wangen spürte. Es war so, als wollten sie ihn begrüßen. Zwei Tibet-Antilopen mit spitzen, weißen Ohren hatten ihre Köpfe gehoben und beobachteten Yasha neugierig. Die flinken Murmeltiere waren weniger zurückhaltend. Piepsend liefen sie auf Yasha zu. Sie stellten sich auf ihre Hinterbeine und zeigten grinsend ihre langen Zähne, dabei musterten sie den Jungen mit riesigen schwarzen Kulleraugen. Ein Murmeltier war besonders vorwitzig und stupste Yasha mit der Nase an. Yasha hob vorsichtig die Hand und strich über das weiche Fell. Genüsslich rollte sich das Murmeltier auf den Rücken und ließ sich ausgiebig den Bauch kraulen.
Hinter Yasha erklang ein leises Schaben. Aus einer Felsspalte starrten ein Paar leuchtende Augen. Sekunden später purzelte ein weißes Fellknäuel zwischen den Felsen hervor. Das Knäuel fiepte empört auf und kratzte sich verlegen am Ohr. Yasha lachte erleichtert. Es war nur ein kleiner, schneeweißer Wolf. Und da, noch einer!
Aus der Dunkelheit der Felsspalte schob sich ein Schnäuzchen. Die langen Tasthaare zitterten aufgeregt, als das Wolfskind den unbekannten Geruch vor der Höhle bemerkte. Neugierig tappte es aus der Höhle und warf Yasha und den Murmeltieren schräge Blicke zu. Eine Weile überlegte der kleine Wolf, was er von dem Menschen halten sollte, der die geheimnisvolle Welt hinter dem Wasserfall gefunden hatte. Yasha blieb ganz ruhig stehen, um den kleinen Kerl nicht zu erschrecken. Nach kurzer Zeit verlor der kleine Wolf das Interesse an dem langweiligen Neuling. Flach auf den Boden geduckt schlich er auf sein Geschwisterchen zu, um mit einem wilden Satz über den Ahnungslosen herzufallen. Fiepsend und knurrend rollten die beiden Wolfskinder über den Boden. Nach einer Weile fingen sie an, sich gegenseitig zu jagen. Yasha kicherte begeistert – was für ein wunderbarer Ort.
Das zutrauliche Murmeltier schlief in Yashas Arme gekuschelt, während der Junge durch das weiche Moos stapfte und diesen wunderbaren Ort weiter erforschte. Überraschend sah er etwas Gelbes zwischen den Felsen leuchten. Es war der Lung-gom-pa. Der Mönch schwebte im Schneidersitz zwei Meter über dem Boden. Als Yasha dicht vor ihm stand, öffnete er seine Augen und fragte gütig: »Hat es dir hier gefallen, Yasha?« Der Junge lächelte verzückt und nickte. »Dann gehört dieser Ort jetzt dir. Besuche ihn, wann immer du Kraft sammeln möchtest. Aber nun musst du wieder zurück. Die kleine Heiligkeit lässt dir sagen, dass ihr weiter müsst, man erwartet euch im Kloster!«, sagte der Lung-gom-pa sanft und deutete auf die Rückseite des Wasserfalls. In diesem Moment verblassten die regenbogenfarbigen Lichtreflexe. Wie durch eine Glasscheibe sah Yasha den Fluss, die weite Ebene und die unendlich hohen schneebedeckten Berge Tibets. Da stutzte er. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses saßen zwei Gestalten und hielten sich an den Händen. Die eine war ein kleiner Mönch, die andere, Yasha staunte – das war er ja selber! Yasha fühlte, dass der kleine Lama noch immer seine Hände hielt. Ob das wunderbare Gefühl, das er in der Welt hinter dem Wasserfall gespürt hatte, bleiben würde? Vorsichtig öffnete Yasha die Augen. Die kleine Heiligkeit lächelte ihn an: »Ich sehe, du hast den Ort gefunden, an dem du deine inneren Kräfte sammeln kannst, Yasha. Das ist gut!«
Die beiden Freunde folgten schon seit Stunden dem sich windenden Flussbett. Der Kies knirschte unter ihren Schuhen. Plötzlich zeigte die kleine Heiligkeit nach vorne und machte vor Freude einen Luftsprung. »Juhu, da ist er! Dort vorne, siehst du den Berg, der wie ein Smaragd leuchtet? Wenn wir uns beeilen, erreichen wir
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