Der Talisman (German Edition)
Yasha sirrten die Flügel der kleinen Schwalben. Mit eleganten Flugmanövern wechselten sich die Vögel beim Tragen des Korbs ab. Sie schwebten mit Yasha über hohe Berge, smaragdgrüne Seen und glitzernde Salzwüsten. Als die Sonne wie ein riesiger roter Ballon am Horizont versank, tauchte sie die Landschaft in rosiges Licht. Es war ein herrlicher Ausblick. Zufrieden aß Yasha die letzten kalten Teigtaschen, die er und der kleine Lama aus der Klosterküche stibitzt hatten. Dann kuschelte er sich ins weiche Moos. Bevor ihm die Augen zufielen, stellte Yasha sich vor, wie es sein würde, wenn er seinen Eltern zum ersten Mal begegnen würde.
Er schlief tief und fest, als die kleinen Schwalben die Kugel aus zartem Moosgeflecht vorsichtig absetzten und davonflatterten. Am frühen Morgen war der Platz vor der alten Kirche noch menschenleer. Yasha erwachte, als ihn jemand an der Schulter rüttelte. »Hallo, aufwachen! Ist alles in Ordnung mit dir?« Yasha öffnete die Augen und ein kleines Mädchen zog hastig die Hand zurück. Hinter ihr stand eine Gruppe Schulkinder, die Yasha neugierig anstarrten.
In Budapest
verabschiedete Panna den
letzten Patienten. Sie schloss die Tür ab und öffnete die Verbindungstür, die von der Praxis in ihre Wohnung führte. Auf der Kommode lag die Post. Aufgeregt riss Panna einen bunten Umschlag auf. »Hurra, Androsh! Wir haben zwei Kinokarten gewonnen. Ist das nicht großartig? Ganz Ungarn erwartet mit Spannung die Premiere des neuen Vampirfilms und wir dürfen dabei sein. Weißt du, dass die Dvorachs Karten für die gleiche Vorstellung bekommen haben? Clara war vorhin in der Praxis und hat es mir erzählt. Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall?« Die bunte Neonreklame des Kinos spiegelte sich in den Pfützen, es war Nacht geworden in Budapest und der Wind ließ den Regen gegen die Scheiben prasseln. »Nu komm, du Drömel, mach zu! Die Dvorachs, Panna und Androsh sind sicher schon da. Nur wir sind nich tidig!«, zischte Anna und schob ihren Mann, den Pferdehändler Georgy, durch die Tür. Georgy schnitt heimlich eine Grimasse. Ihr norddeutsches Temperament ging mal wieder mit Anna durch. Er mochte es gar nicht, wenn seine Frau ihn Drömel nannte. Damit meinte sie nämlich, dass er eine Schlafmütze war, zum Glück hatte es niemand gehört. Das elegante Foyer des Kinos war menschenleer. »Dat is ja dull!«, flüsterte Anna ehrfurchtsvoll und ließ ihren Blick bewundernd über glitzernde Kronleuchter, den roten Teppich und die elegante schwarze Tapete wandern. Plötzlich erklang ein leises Hüsteln.
Ein hagerer,
großer Mann stand hinter
einem Tresen und fixierte sie mit schmalen Augen. »Oh Gott, ein Vampir!«, stöhnte Georgy. Während die Gestalt in den Taschen ihres Anzuges wühlte, flatterte ein schwarzer Schmetterling unter dem Umhang hervor und setzte sich auf eine Wandlampe. Endlich hatte der Vampir gefunden, wonach er suchte und kam zielstrebig auf Anna und Georgy zu. »Ef hut mir löd …«, nuschelte er und drückte dem entsetzten Georgy eine schwarze Schachtel in die Hand. Dann nahm er umständlich die falschen Vampirzähne aus dem Mund. »Uff, nun kann ich wieder richtig sprechen. Es tut mir leid! Sie sind zu spät gekommen, der Film läuft bereits und die Premiere darf nicht gestört werden. Zum Trost nehmen Sie bitte diese kleinen Andenken an das Lichtspielhaus Nabrüz mit nach Hause!«, sagte der Vampir und führte die beiden zum Ausgang. Dort verbeugte er sich höflich und öffnete die Tür. Anna und Georgy machten lange Gesichter. So hatten sie sich den Kinoabend nicht vorgestellt. Liebevoll rückte Georgy Annas kleinen, roten Hut zurecht. »Schade! Du hast dich extra hübsch gemacht. Aber sei nicht traurig, Anna, wir sehen uns den Film nächste Woche an. Ich bringe dich zu Onkel Kyril und fahre anschließend nach Hause. Einer muss sich ja um die Pferde kümmern.«
Unter dem Kichern der Schulkinder kroch Yasha aus der Mooskugel. »Seht ihr, was habe ich euch gesagt! Der ist nicht tot, der hat nur geschlafen, sonst wäre er nicht aufgewacht!«, sagte das kleine Mädchen mit den roten Zöpfen altklug. »Du hast ihn ja auch geschüttelt! Ich stehe auch auf, wenn Mami mich schüttelt. Möchtest du den Rest von meinem Frühstücksbrot haben?«, fragte ein kleiner Junge und hielt Yasha einladend sein angebissenes Brot entgegen. »Danke, gerne!«, antwortete Yasha und verkniff sich ein Grinsen. »Sagt mal, könnt ihr mir sagen, wo ich hier bin?« Natürlich wussten die
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