Der Talisman (German Edition)
Schneeleoparden sah. Er hatte noch nie ein so schönes und zugleich majestätisch und gefährlich anmutendes Tier gesehen. Wie ein riesiger, weißer Kater stand der Schneeleopard zwischen den Bäumen. Seine Muskeln waren angespannt und die hellblauen Augen funkelten wie Bergseen. Das Tier entdeckte den Mantel, der zwischen den Baumwurzeln lag, unter dem die beiden Freunde verborgen waren. Die kleine Heiligkeit bewegte lautlos seine Lippen und schlüpfte unter dem Mantel hervor. Der Schneeleopard begann zähnefletschend, den kleinen Tibeter zu umkreisen. »Nein! Mein Gott, Talisman, hilf ihm!«, schrie Yasha und der steinerne Schmetterling glühte beunruhigt auf. Der Schneeleopard duckte sich zum Sprung. Da sagte der kleine Lama ganz laut und streng: »Du! Tier! Strömst aus meinem Geist. In meinem Geist wirst du versinken!« Dies wiederholte er immer lauter, bis es wie Donner durch die Dunkelheit hallte. Plötzlich wirbelte der Leopard herum und floh wie von Furien gehetzt in den Wald. »Knappe Sache!«, seufzte die kleine Heiligkeit erleichtert und rannte zu Yasha, um schnell unter den Mantel zu kriechen. An Schlaf war nach diesem Abenteuer nicht mehr zu denken, also warteten die beiden Freunde sehnsüchtig darauf, dass die Nacht vorbeiging. Beim ersten Tageslicht brachen sie auf.
»Da vorne
ist der schwarze
Punkt, der zwischen zwei weißen Riesen leuchtet!«, rief die kleine Heiligkeit glücklich. Der Ausblick auf die gigantischen Bergriesen war wunderschön, aber das Schönste war, dass sie nun ihr Ziel sehen konnten. Vor ihnen zwischen zwei weißen, schneebedeckten Gipfeln lag eine dunkle Klosterburg. Die kleine Heiligkeit hatte erzählt, dass es ein einfaches Gebäude war, denn es wurde nur wenige Wochen im Jahr bewohnt. Sobald der Schnee taute, pilgerten heilkundige Mönche hierher, um Kräuter zu sammeln. Bunte Gebetsfahnen wehten vor dem Kloster. Außen in die Mauer waren große, üppig verzierte Gebetsmühlen eingelassen. Der kleine Lama ging mit ausgestreckter Hand an ihnen entlang und drehte sie im Uhrzeigersinn, bevor sie durch das Tor schritten. Die Sonne schien warm in den Innenhof und es duftete nach Kräutern, die in großen Bündeln zum Trocknen aufgehängt waren. »Genau wie bei Panna in der Praxis. Dieser Ort würde ihr sicher sehr gefallen!«, schoss es Yasha durch den Kopf, als er der kleinen Heiligkeit ins Innere des Klosters folgte. Hier war es dunkel und still. Suchend tappten die beiden Freunde durch die Räume. Im Gebetssaal roch es nach Weihrauch. Butterlampen brannten und beleuchteten die bunten Wandmalereien, Fratzen schneidende Götter, Fabelwesen und geheimnisvolle Ornamente. Auf einem Altar am Ende des Raumes stand eine goldene Buddhastatue. Zielsicher durchquerte der kleine Lama den Raum. Durch eine kleine Tür gelangten sie in einen Nebenhof. »Schade! Es sieht so aus, als wenn alle auf den Hochwiesen sind, um Heilkräuter zu ernten. Wir holen uns jetzt aus der Küche etwas zu essen und dann habe ich eine Überraschung für dich!«, sagte die kleine Heiligkeit.
Es roch durchdringend nach Schwefel. Zwischen den Felsen neben dem Kloster gab es eine warme Quelle, Dampf stieg aus dem natürlichen Felsbecken auf. Yasha und die kleine Heiligkeit tobten so doll im Wasser, dass sogar die Handtücher, die am Beckenrand lagen, klitschenass wurden. Nun saßen sie auf den bemoosten Felsen an der Quelle und Yasha fühlte, dass es Zeit war, Abschied zu nehmen. »Wo warst du eigentlich, als wir im Reich hinter dem Wasserfall waren? Ich habe doch gesehen, wie du vor mir hineingegangen bist?«, fragte er. Der kleine Lama kicherte: »Ich war die ganze Zeit bei dir! Du hast mich gestreichelt und mich herumgetragen!«
Der strahlend blaue Himmel verdunkelte sich. Ein Schwarm Schwalben, die auf dem Weg in wärmere Gefilde waren, flog heran. Der Talisman glühte. Yasha sah erstaunt auf den steinernen Schmetterling herab. Er hatte sich doch noch gar nichts von ihm gewünscht. Unter Yasha begann das Moos zu wachsen. Wie kleine Fühler reckten sich die winzigen Stängelchen in die Höhe. Sie wuchsen und wuchsen, verschlangen sich miteinander, bis sie Yasha umgaben. Langsam erhob sich das kugelrunde Geflecht in die Luft. Verblüfft sah Yasha, dass die Schwalben Moosfäden im Schnabel hielten und ihn in seiner Kugel forttrugen.
Unter ihm stand die kleine Heiligkeit in ihrem gelbroten Gewand und winkte. »Danke! Danke, kleiner Lama! Danke für alles!«, schrie Yasha begeistert und winkte zurück.
Über
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