Der Talisman (German Edition)
Tür
bemerkten, erschraken sie furchtbar. Die Jüngere bekreuzigte sich und brüllte: »Ein Strigoi! Zu Hilfe! Ein Strigoi! Jag ihn weg!« Ein heftiger Schlag traf Yasha am Kopf. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die andere Frau einen runden Gegenstand in ihrer Hand wog und erneut auf ihn zielte. Gerade noch rechtzeitig duckte sich Yasha und die dicke Knoblauchknolle flog knapp über ihn hinweg und zerplatzte, ohne Schaden anzurichten, an einem Baumstamm. Ermutigt verließ die Knoblauchschützin den sicheren Platz hinterm Käsekessel. Ihre Augen funkelten drohend, als sie das hölzerne Kruzifix von der Wand riss und auf Yasha losging. »Weiche, du ruhelose Seele! Geh zurück in dein Grab und lass dich nie wieder bei uns blicken!«, keifte sie schrill.
Yasha rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Der schmale Weg wand sich steil nach oben. An seinem Ende sah Yasha ein kleines Stück Himmel. Er hatte den Gipfel des Berges erreicht – aber wo war Emil? Nicht auszudenken, wenn er ihn verloren hätte. Um nichts in der Welt wollte Yasha den Weg zurückgehen, vorbei an diesen unheimlichen Leuten. Schnaufend rannte er weiter. Da entdeckte er vor sich den wippenden Rucksack von Emil Knall. »Wo bleibst du denn, Yasha? Schau! Dort liegt das Dorf, in dem meine Großmutter lebt. In zwei Stunden haben wir es geschafft!«, rief Emil fröhlich und deutete auf eine Ansammlung von Häusern auf dem Berghang gegenüber. »Emil, die beiden Frauen … sie haben mich mit Knoblauch beworfen!« Abrupt drehte sich Emil um. Yasha war blass um die Nase und zitterte.
Mitfühlend legte Emil
ihm den Arm auf die
Schulter: »Sie haben dich für einen Strigoi, einen Vampir, gehalten. Es muss mit den Schafen zusammenhängen, die in letzter Zeit von ihrer Weide verschwinden. Es gab auf der Weide keine Spuren von Raubtieren, darum denken sie, dass nur ein Vampir ihre Schafe geholt haben kann. Denk bitte nicht schlecht von ihnen! Normalerweise sind sie sehr freundlich.« Den Rest des Weges legten Emil und Yasha schweigend zurück und jeder hing seinen Gedanken nach.
Emils Großmutter arbeitete im Garten vor dem Haus. Ihre geflickten Hosen steckten in kaputten Gummistiefeln und über dem abgetragenen geblümten Arbeitskittel trug sie eine dicke Strickjacke. Ihr Gesicht strahlte wie ein rotbackiger, runzliger Apfel, als sie ihren Enkel und Yasha begrüßte. Yasha mochte sie auf Anhieb. »Ei, ei, ei, ein Strigoi? Aber man sieht doch, dass dieser hübsche Junge kein Vampir ist!«, rief sie kopfschüttelnd und schob die Jungen ins Haus.
An den Fenstern hingen dicke Knoblauchzöpfe und von der Wand lächelte der Heiland milde von einem Kreuz auf sie herab. Emil zwinkerte Yasha zu und sagte laut: »Überall Knoblauch, geweihtes Wasser und Kreuze. Du bist genauso abergläubisch wie die Hirten, Großmutter! Es gibt keine Vampire und keine Werwölfe. Das sind alles nur Märchen!« Großmutter Knall warf Emil einen strengen Blick zu. Dass ihr Enkel die Existenz der gefährlichen Geisterwesen in Frage stellte, machte ihr Sorgen. Was, wenn Emil unvorsichtig war und weder ein Kreuz noch einen Zopf Knoblauch in seinem Zimmer in Sibiu aufgehängt hatte? Bei diesem Gedanken stöhnte die alte Dame leise.
Yasha blickte
zwischen Emil und
seiner Großmutter hin und her. Gleich würde sie zu einer langen Rede ansetzen. Das erkannte Yasha an ihrem Gesichtsausdruck. Genauso hatte Mutter Gössler auch geschaut, wenn sie sich anschickte, ihm einen ernsten Vortrag zu halten. Während Großmutter Knall noch tief Luft holte, zog Yasha ein kleines Paket aus seinem Rucksack. »Liebe Frau Knall! Vielen Dank, dass ich Sie besuchen darf!«, sagte Yasha und überreichte der alten Dame das Geschenk. Emil warf seinem Freund einen dankbaren Blick zu. »Oh, ist der hübsch, Yasha! So ein feiner, weicher Schal. Ich danke dir!«, freute sich die Großmutter und vergaß darüber die Rede, die sie halten wollte.
Der Tisch in der Wohnküche bog sich unter den Köstlichkeiten, die die alte Dame für die Jungen vorbereitet hatte. Nach dem Essen trieben Emil und Yasha die Hühner und Ziegen in den Stall. Es begann zu dämmern und im Haus wurden die Kerzen angezündet. Viele Stunden saßen die Jungen mit Großmutter Knall am prasselnden Kamin und lauschten mit wohligem Gruseln ihren Geschichten. Aber auch der gemütlichste Abend ist einmal zu Ende und es wurde Zeit, ins Bett zu gehen. Emil nahm eine Petroleumlampe vom Regal und führte Yasha durch das dunkle Haus. Kichernd und
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