Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
Vom Netzwerk:
(durchhängende Fähnchengirlanden), Schnellimbissen (die großen Titten von Amerika), einer Bowlingbahn mit einem riesigen Neonschild (BOWL-A-RAMA!), Lebensmittelgeschäften, Tankstellen. Jenseits von alledem durchquerte die Mill Road einen fünf oder sechs Blocks umfassenden Wohnbezirk – eine Kette alter, zweistöckiger Ziegelbauten, vor denen Wagen geparkt waren. An der anderen Straße lagen offensichtlich Oatleys bedeutendste Häuser – große, holzverkleidete Gebäude mit Veranden und langen, schräg abfallenden Rasenflächen. An der Kreuzung dieser beiden Straßen blinzelte eine Verkehrsampel mit ihrem roten Auge in den Spätnachmittag. Eine weitere, ungefähr acht Blocks entfernte Ampel wechselte gerade auf Grün; sie stand vor einem hohen, schäbigen Bauwerk mit vielen Fenstern, das wie eine Irrenanstalt aussah und deshalb vermutlich die High School war. Hinter diesen beiden Hauptstraßen erstreckte sich ein Wirrwarr von kleinen Häusern, untermischt mit anonymen, von hohen Maschendrahtzäunen umgebenen Baulichkeiten.
    Viele Fenster der Fabrik waren zerbrochen, einige der Schaufenster im Geschäftsviertel zugenagelt. Müllberge und flatterndes Papier türmten sich auf eingezäunten Betonhöfen. Sogar die bedeutenden Häuser wirkten vernachlässigt – die Veranden hingen durch, die Anstriche waren verblichen. Wahrscheinlich gehörten sie den Besitzern der mit unverkäuflichen Autos voll gestopften Gebrauchtwagenplätze.
    Einen Augenblick lang dachte Jack daran, Oatley den Rücken zu kehren und sich auf den Weg nach Dogtown zu machen, wo immer das liegen mochte. Aber das hieß, dass er noch einmal den Mill Road-Tunnel durchqueren musste. Von irgendwo aus dem Geschäftsviertel drang das Quaken einer Hupe, für Jack ein Geräusch voll unvorstellbarer Einsamkeit und Schwermut.
    Die Spannung, die ihn beherrschte, ließ erst nach, als er die Fabriktore erreicht hatte und der Mill Road-Tunnel weit hinter ihm lag. Fast ein Drittel der Fenster in der schmutzigen Ziegelsteinfassade war zerbrochen, andere waren mit braunen Papprechtecken ausgefüllt. Sogar von der Straße aus roch Jack Maschinenöl, Fett, schwelende Ventilatorriemen und rasselnde Getriebe. Er steckte die Hände in die Taschen und wanderte den Abhang hinunter, so schnell er konnte.
     
    5
     
    Aus der Nähe betrachtet steckte der Ort noch tiefer in der Krise, als es von der Hügelkuppe aus den Anschein gehabt hatte. Die Verkäufer in den Gebrauchtwagenhandlungen lehnten an den Fenstern ihrer Büros, zu gelangweilt, um herauszukommen. Ihre Fähnchen hingen zerfetzt und unlustig herab, die einstmals optimistischen Schilder auf dem geborstenen Gehsteig vor den Wagenreihen – AUS ERSTER HAND! EINMALIGE GELEGENHEIT! DAS AUTO DER WOCHE! – waren vergilbt. Auf einigen von ihnen war die Schrift verlaufen, als hätte man die Schilder im Regen stehengelassen. Nur sehr wenige Leute bewegten sich auf den Straßen. Als Jack sich dem Stadtzentrum näherte, sah er einen alten Mann mit eingesunkenen Wangen und grauer Haut, der versuchte, einen leeren Einkaufswagen den Bordstein hinaufzubefördern. Als er sich näherte, kreischte der alte Mann feindselig und erschrocken und entblößte dabei sein Zahnfleisch, das so schwarz war wie das eines Dachses. Offenbar glaubte er, Jack wollte seinen Wagen stehlen! »Entschuldigung«, sagte Jack mit klopfendem Herzen. Der alte Mann versuchte, den sperrigen Korb des Wagens mit den Armen zu umschließen, ihn zu beschützen, und die ganze Zeit zeigte er seinem Feind sein schwarzes Zahnfleisch. »Entschuldigung«, wiederholte Jack. »Ich wollte nur …«
    »Miescher Dieb! Miescher DIEB!« kreischte der alte Mann, und Tränen krochen in die Runzeln auf seinen Wangen.
    Jack machte, dass er davonkam.
    Zwanzig Jahre zuvor, in den Sechzigern, musste in Oatley Wohlstand geherrscht haben. Die ausgeblichene Farbigkeit des Geschäftsviertels an der Mill Road war das Produkt einer Zeit, in der Waren rasch umgesetzt wurden, Benzin billig war und niemand den Ausdruck »frei vereinbartes Einkommen« kannte, weil das Geld reichlich floss. Die Leute hatten ihre Ersparnisse in Konzessionen und kleine Ladengeschäfte gesteckt, und eine Zeitlang hatten sie zwar nicht gerade Geld gescheffelt, aber zumindest den Kopf über Wasser gehalten. Über diesem kleinen Geschäftsviertel lag nach wie vor eine Tünche von Hoffnung – aber in den Konzessions-Restaurants saßen nur ein paar gelangweilte Teenager hinter ihren Colaflaschen, und in den

Weitere Kostenlose Bücher