Der Tanz des Maori (epub)
Leben. Niemand. Bis zu dem Tag, an dem dieses Mädchen aus Deutschland aufgetaucht war und irgendwann nicht mehr aufgehört hatte, nach der Vergangenheit zu fragen. So viel Schmerzhaftes war wieder an die Oberfläche gekommen, aber die Erinnerung war zum Teil auch wunderschön gewesen. Sie seufzte.
»Ich habe gehofft, dass ich wenigstens diesen Teil der Geschichte im Dunkeln lassen kann«, erklärte sie. »Am Anfang dachte ich doch tatsächlich, dass es reicht, wenn ich dir die Geschichte von Ava hier in Neuseeland erzähle. Aber es scheint, als ob die alten Wahrheiten mit aller Macht an die Oberfläche drängen, oder?«
Wie ich schon erzählt habe, legte das Schiff mit Ava an Bord ab, Junior heulte bitterlich, und Angus fuhr uns alle in sein Haus. Als wir ankamen, versteckte Junior sich hinter einem Sessel und wollte von niemandem angefasst werden. Miriam bemühte sich so sehr um ihn â sie kniete vor dem Sessel und sang beruhigende Kinderlieder, versuchte, ihm den Kopf zu streicheln oder ihn in kindische Spielchen zu verwickeln. Er schlug jedoch ihre Hand weg und verkroch sich immer weiter hinter diesem Sessel. Miriam war voller Verständnis. »Er vermisst seine Mutter«, erklärte sie immer wieder. »Und wer könnte ihm das verübeln? Sie ist abgereist, und er fühlt sich verlassen. Ich bin mir sicher, wenn wir ihm nur genug Liebe in den nächsten Wochen und Monaten geben, dann wird er sich allmählich wieder beruhigen. Wir dürfen nur keine Wunder erwarten â¦Â«
Junior weinte den ganzen Nachmittag. Immerhin gelang es mir am Abend, ihm etwas zu trinken zu geben. Es brach mir fast das Herz, diesen kleinen unglücklichen Jungen zu sehen, der mit seinen verquollenen Augen immer wieder nach seiner Mama fragte. In dieser Nacht nahm ich ihn mit in mein Bett. Er klammerte sich an mich wie ein Ertrinkender, wachte immer wieder auf und weinte sich dann in den Schlaf. Immerhin war er noch keine zwei Jahre alt, er konnte nicht verstehen, warum er innerhalb weniger Monate seinen Vater und seine Mutter verloren hatte. Zum Frühstück kam Miriam in mein Zimmer. Sie hatte einen Becher mit heiÃer Milch für Junior dabei â aber er brach schon bei ihrem Anblick in Tränen aus. Miriam riss sich zusammen, lächelte beruhigend und stellte die Tasse einfach still auf meinen Nachttisch. Junior trank die Milch â aber erst, als sie den Raum verlassen hatte.
Es mag sein, dass die Zeit alle Wunden heilt. Aber Juniors Trauer schien nicht zu vergehen. Mit den Wochen klammerte er sich immer heftiger an mich, wollte keine Sekunde mehr ohne meine Anwesenheit sein. Wann immer sich Angus oder Miriam ihm näherten, schrie er laut und unkontrolliert, schlug um sich oder schwieg und starrte auf den Boden. Ich fragte mich damals oft, ob so ein kleines Kind wohl schon fühlen konnte, wer ihm seinen groÃen Verlust angetan hatte.
Am schlimmsten war es, wenn Junior ins Bett gebracht werden sollte. Angus hatte verfügt, dass aus dem kleinen, verwöhnten Denson ein echter MacLagan gemacht werden sollte. Damit wollte er sagen, dass niemand Junior trösten durfte, wenn er in seinem Bett weinte. Damit wurde es natürlich von Abend zu Abend schwieriger, den Jungen in sein Bett zu legen. Wenn er auch nur spürte, dass es in Richtung seines verhassten Schlafzimmers gehen sollte, wurde er regelrecht hysterisch. Er klammerte sich an Möbeln fest, schlug auf jeden ein, der ihn festhalten wollte, weinte und schrie in einem fort: »Nein! Nein! Nein!«
Wenn er dann gewaltsam in sein Bett verfrachtet wurde, hörten wir ihn hinter der geschlossenen Tür oft noch stundenlang weinen. Ich schlich mich ein paar Mal heimlich zu ihm. Er sah mich mit seinem verquollenen, verheulten Gesicht Hilfe suchend an. Alles, was Junior wirklich brauchte, war eine Unmenge Liebe. Aber ich durfte sie ihm nicht geben, Angus wollte sie ihm nicht geben und Miriam konnte es nicht. Und so wurde Junior immer verzweifelter und einsamer.
Miriam bemühte sich, so gut es ging. Vor allem am Anfang setzte sie sich oft zu Junior, versuchte mit ihm zu spielen oder ihm etwas aus einem Bilderbuch vorzulesen. Junior wollte von all diesen Versuchen allerdings wenig wissen. Er, der so freundlich mit ihr gespielt hatte, als er gemeinsam mit seiner Mutter zu Besuch gekommen war, lehnte sie mit jedem Tag mehr ab. An einem Nachmittag im Garten warf sie ihm immer wieder einen Ball zu, den er mit
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