Der Tanz des Maori (epub)
noch auf die Dampfschiffe gesetzt. Mein Vater hat das Geschäft weitergeführt â und jetzt bin ich wohl irgendwann an der Reihe.«
Die alte Maori hielt sich mit einem Mal an einer Gartenbank fest und schloss die Augen. Für einen Moment fürchtete Sina, dass Ruiha ohnmächtig werden würde. Aber dann schlug sie ihre dunklen Augen wieder auf und musterte Brandon so intensiv, als ob sie direkt in seiner Seele lesen wollte. Für einen Moment herrschte Schweigen.
»Keine anderen Erben?« Ruiha sah ihn unverwandt an.
Sina fiel auf, dass es jetzt an Brandon war, für einen Augenblick überrascht zu sein. Er schien zu zögern, bevor er antwortete. »Doch. Ich habe einen Onkel. Der kam allerdings nie wirklich als Erbe in Frage. John ist zwar ein paar Jahre älter als mein Vater, aber ich glaube, er wollte nie irgendeine Verantwortung übernehmen. Keine Verantwortung, die gröÃer war als der Transport einer halbvollen Ginflasche â¦Â«
»Wo lebt er denn?« Sina verbarg ihre Ãberraschung nur schwer. Von diesem Onkel hatte Brandon bisher nichts erzählt.
»Schwer zu sagen.« Brandon zuckte mit den Achseln. »Er treibt sich für gewöhnlich irgendwo in Südostasien oder auf einer Insel im Pazifik rum. Da, wo er noch eine Bar findet, bei der er anschreiben lassen kann. Oder ein Bordell, das ihn noch nicht hinausgeworfen hat. Wo er noch nicht so viele Menschen beleidigt hat, dass er ständig verprügelt wird.« Seine Stimme klang bitter.
»Wovon lebt er denn?« Sina konnte sich einfach nicht vorstellen, dass bei den ehrgeizigen Cavanaghs so ein schwarzes Schaf vorkommen konnte.
Wieder ein Schulterzucken. Wahrscheinlich war das bei den Cavanaghs die Geste, die sie unwillkürlich machten, sobald die Rede auf Onkel John kam. »Gelegenheitsjobs. Und dem Scheck, den ihm mein Vater hin und wieder schickt. Er fühlt sich verantwortlich für seinen groÃen Bruder, möchte ihm immer wieder helfen. Aber John weigert sich, auch nur einen Satz mit ihm zu wechseln. Er löst die Schecks ein und reist sofort in ein anderes Land. Der letzte Scheck wurde vor ein paar Monaten in Tahiti eingelöst. Ich würde darauf wetten, dass John da inzwischen aber nicht mehr ist.«
Ruiha sah ihn aufmerksam aus ihren dunklen Augen an. In ihrem faltigen Gesicht konnte man keine Gefühlsregung erkennen. Ihre Stimme klang mitfühlend, als sie nach einer ganzen Weile nachfragte: »Seit wann lebt John denn schon so?«
»Ich denke, seit etwa dreiÃig Jahren. Lange vor meiner Geburt hat er beschlossen, dass er mit seiner Familie nichts mehr zu tun haben will. Am Anfang dachten wohl alle, dass das nur eine Phase ist. Immerhin war er schon in der Geschäftsführung der Reederei, war Kapitän und konnte wohl sehr gut mit Menschen umgehen. Und dann ⦠hat er einfach aufgehört und ist gegangen. Hat noch seine Konten leergeräumt und ein Flugticket gekauft. Dann die Haustür hinter sich zugezogen und ist gegangen. Monatelang dachte jeder, dass er wiederkommen würde. Mein Vater ist wohl irgendwann in Johns Wohnung gegangen. Es sah aus, als ob John nur kurz weggegangen wäre. Dreckiges Geschirr in der Spüle, verschimmelter Käse und eine angebrochene Weinflasche im Kühlschrank. Mein Vater hat aufgeräumt. Vergebliche Liebesmüh: John kam nie mehr wieder. Die Wohnung wurde irgendwann gekündigt, weil die Miete nicht mehr bezahlt wurde. Meine Eltern haben alle seine Möbel und Anzüge in einen Container gepackt.« Er lächelte. »Ich nehme an, da sind sie heute noch drin. Er ist auf jeden Fall nie wieder zurück nach Neuseeland gekommen. Ich habe ihn nie kennengelernt â wahrscheinlich weià John nicht einmal, dass es mich gibt.«
»Und dein Vater? Vermisst er seinen Bruder?« Ruiha rührte in ihrem Kaffee, während sie diese Frage in scheinbar unbeteiligtem Ton stellte.
»Er redet nicht über ihn.« Brandon schien über seine Antwort nachzudenken. Dann schüttelte er den Kopf. »Das muss allerdings nicht bedeuten, dass er ihn nicht vermisst. Immerhin ist er immer mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass John einst alles erben würde. Und dann â mit etwa Mitte zwanzig wurde ihm allmählich klar, dass er die Verantwortung übernehmen muss. Ob er das gerne getan hat? Oder Angst hatte, dass sein Bruder eines Tages wieder vor der Tür steht? Ich habe ihn nie gefragt
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