Der tanzende Tod
sagen, ich solle mich zum Teufel scheren, dies wäre sein gutes Recht, und dann würde ich niemals ...
Mein Moment der Panik kam und ging sofort wieder. Er würde es gestatten. Ich würde dafür sorgen, koste es, was es wolle. Wenn ich Menschen von Ridleys Kaliber dazu bringen konnte, sich in Lämmer zu verwandeln, konnte ich Edmond ebenso leicht überzeugen, mich freundlich in seinem Hause willkommen zu heißen. Elizabeth würde dies wahrscheinlich nicht gutheißen – so wie es üblicherweise der Fall war, wenn es um die Frage ging, einen anderen Menschen zu beeinflussen, aber hier gab es besondere Umstände. Gewiss würde sie keine Einwände erheben, wenn es darum ging, das Leben für alle Beteiligten ein wenig einfacher zu machen, indem ich dieses merkwürdige Talent einsetzte.
Dann wäre die einzige Einschränkung hinsichtlich meines Zusammenseins mit Richard meine Unfähigkeit, ihn während des Tages zu treffen. Verdammnis, dies war ein Hindernis, welches ich durch meine Beeinflussung nicht beseitigen konnte. Etwas war besser als gar nichts, aber es verdross mich dennoch. Nun, damit würde ich leben müssen, bis er älter wurde und länger aufbleiben durfte. Doch dann wäre er im Internat ... aber er käme in den Ferien zu Besuch nach Hause ...
Es gab so vieles, worüber ich nachdenken musste, so vieles zum Fantasieren und Planen. Ich starrte ins Feuer, bis meine Augen tränten, blinzelte, um die verschwommene Sicht zu klären, aber sie tränten nur umso mehr. Zu meinem Erstaunen quoll zuerst eine Träne und dann eine weitere hervor.
»Du benimmst dich lächerlich, Johnnyboy«, sagte ich laut und wischte sie mit meinem Ärmel fort, bevor ich mich an mein Taschentuch erinnerte. Es war das Taschentuch, das ich im Stall benutzt hatte, dasjenige, welches in Form kleiner Blutflecken an mein letztes Mahl erinnerte. Es spielt keine Rolle, dachte ich und rieb mir die feuchten Wangen damit.
Aber auf eine bestimmte Weise spielte es doch eine Rolle, denn nun wurde mir bewusst, warum ich weinte. Das sichere Wissen, dass Richard das einzige Kind war, welches ich jemals zeugen würde, wodurch er für mich unermesslich kostbar wurde, trübte mein Glück.
Aufgrund meines veränderten Zustandes vermochte es der männliche Teil meines Körpers, obgleich immer noch in der Lage, einer Dame Vergnügen zu bereiten, welche sich seiner bedienen wollte, nun nicht mehr, Samen hervorzubringen. Auch wenn er zu froher Aufmerksamkeit gelangen konnte, was es mir gestattete, so glücklich wie jeder andere Mann den Geschlechtsakt zu vollziehen, war er nicht länger notwendig, um bei meinen Vergnügungen einen Höhepunkt zu erreichen. Diese süße Vollkommenheit war nur zu finden, wenn ich das Blut der Dame trank, ein Vorgang, welchen wir beide voll und ganz genießen konnten, so lange wir die Ekstase auszuhalten vermochten. So wunderbar und so überlegen es der gewöhnlicheren Art des Liebesaktes auch war, so entsetzlich war der Preis, den ich dafür zu zahlen hatte. Die Freude, eine Frau und ein Heim zu haben, könnte zwar in Zukunft die meine sein, aber mein gegenwärtiger Zustand schloss tragischerweise jede Möglichkeit aus, jemals eine eigene Familie zu besitzen, die ich lieben und für die ich sorgen konnte.
Warum war es so?, fragte ich mich. Die Frage hatte ich mir schon lange vor dieser Nacht gestellt, aber niemals zuvor war für mich die fehlende Antwort so schwer zu ertragen gewesen.
Wenn ich nur Nora finden könnte.
Sie wiederzusehen hatte seit jeher im Mittelpunkt meiner Welt gestanden, seit ich in jener Sommernacht in einem Sarg tief unter der Erde auf dem Friedhof erwacht war. Doch trotz all seiner Einschränkungen hatte der Zustand, welchen sie mir vermacht hatte, auch seine angenehme Seite. Ich war dankbar für seine Vorteile, musste aber mehr über die Nachteile wissen. Unwissenheit hatte mir in der Vergangenheit Kummer bereitet; also hegte ich eine sehr berechtigte Begierde, alles zu lernen, was es zu lernen gab, bevor ich zusätzliche Fehler beging. Wenn ich nur mit ihr sprechen könnte, nur einmal, und Antworten auf all meine Fragen erhielte, dann könnte ich vielleicht ein wenig Frieden für mein geplagtes Herz finden.
Ich würde ihr natürlich von Richard erzählen müssen. Es gab keinen anderen Weg. Ich hoffte, sie wäre nicht allzu ärgerlich.
Wenn ich sie fände.
Oliver und ich würden mit neuer Energie die Aufgabe erneut in Angriff nehmen müssen. Ich könnte einen weiteren Blick in ihr Londoner Haus
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