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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Andiamin-Höhen. An die Nacht, als Conphas ihn gerettet hatte.
    Kellhus schenkte dem Geschöpf keine Beachtung, sondern sagte: »Alle Menschen unterwerfen sich, Akka, auch wenn sie herrschen wollen. Das liegt in ihrer Natur. Es geht nicht darum, ob sie sich unterwerfen, sondern wem… «
    »Dein Herz, Chigraa… Ich werde es essen wie eine Frucht…«
    »Wie meinst du das?« Achamian wandte seinen Blick von dem Scheusal und sah Kellhus in die himmelblauen Augen.
    »Es gibt Menschen, die sich – wie viele Männer des Stoßzahns – nur Gott wirklich unterwerfen. Sie bewahren ihren Stolz, indem sie vor etwas knien, das stumm und unsichtbar ist. Sie können sich demütigen, ohne Erniedrigung fürchten zu müssen.«
    »Ich werde es essen…«
    Achamian hielt zitternd die Hand vor die Sonne, um das Gesicht des Kriegerpropheten besser zu erkennen.
    »Gott kann nur prüfen, nie erniedrigen«, fuhr Kellhus fort.
    »Und die übrigen Menschen?«, brachte Achamian hervor. »Was ist mit ihnen?« Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die schmalen Finger der Kreatur zu einem Gesicht fügten, das an die ineinander geschobenen Finger zweier Fäuste denken ließ.
    »Sie sind wie du, Akka. Sie unterwerfen sich nicht Gott, sondern ihresgleichen. Einem Mann. Einer Frau. Man kann seinen Stolz nicht bewahren, wenn man sich einem anderen unterwirft. Und wenn man sich an ihm versündigt, gibt es keine Absolution. Die Angst vor Erniedrigung ist immer da – auch wenn man sie nicht wahrhaben will. Liebende verletzen, demütigen und entwürdigen einander, aber sie prüfen einander nicht, Akka – jedenfalls nicht, wenn sie sich wirklich lieben.«
    Die Kreatur schlug nun um sich, als würde sie von einer unsichtbaren Faust geschwungen. Plötzlich glaubte Achamian, die Bienen nicht mehr ringsum, sondern in seinem Schädel summen zu hören.
    »Warum erzählst du mir das?«
    »Weil du dich immer noch an die Hoffnung klammerst, sie wolle dich nur prüfen…« Einen wahnsinnigen Moment lang schien es, als würde Inrau ihn beobachten – oder der kleine Proyas mit flehend aufgerissenen Kinderaugen. »Aber dem ist nicht so.«
    Achamian blinzelte erstaunt. »Was willst du damit sagen? Dass sie mich erniedrigt? Dass du mich erniedrigst?«
    Zischlaute und Kettenrasseln.
    »Dass sie dich noch immer liebt. Was mich angeht, habe ich mir nur genommen, was man mir gegeben hat.«
    »Dann gib es zurück!«, fuhr Achamian ihn in heller Wut an. Er zitterte, und seine Kehle war wie zugeschnürt.
    »Du vergisst etwas, Akka: Liebe ist wie Schlaf – je verbissener man danach strebt, desto weiter weicht sie zurück.«
    Achamian erinnerte sich, dass er selbst es gewesen war, der an jenem ersten Abend, den er mit Kellhus und Serwë vor Momemn am Feuer verbracht hatte, die Sehnsucht nach Liebe mit der nach Schlaf verglichen hatte. Hastig vergegenwärtigte er sich das seltsame Staunen jenes Abends, das Gefühl, etwas so Schreckliches wie Unabwendbares entdeckt zu haben. Und er vergegenwärtigte sich die Augen, die ihn damals – wie strahlende Edelsteine in dieser Welt aus Morast – über das Feuer hinweg angesehen hatten und auch jetzt ansahen… obwohl inzwischen ein ganz anderes Feuer zwischen ihnen brannte.
    Das Scheusal jaulte.
    »Es gab eine Zeit«, fuhr Kellhus fort, »da warst du verloren.« In seiner Stimme schien ein kaum vernehmbarer Donner zu rollen. »Es gab eine Zeit, da dachtest du: Es gibt keinen Sinn – nur Liebe. Es gibt keine Welt…«
    Und Achamian hörte sich flüstern: »… nur sie.«
    Esmenet. Die Hure von Sumna.
    Selbst jetzt lag Mordgier in seinem Blick. Bei jedem Blinzeln sah er die beiden zusammen, sah Esmenets verzückt aufgerissene Augen, ihren offenen Mund und Kellhus’ schweiß glänzenden, nach hinten gebogenen Oberkörper… Achamian wusste, dass er nur eine Formel sprechen musste, damit alles vorbei wäre. Er brauchte nur zu singen, und die Welt würde brennen.
    »Weder ich noch Esmenet können dein Leiden ungeschehen machen. Deine Erniedrigung gehört dir allein, Akka.«
    Diese verschlingenden Augen! Etwas ließ Achamian vor ihnen zurückschrecken und beinahe die Arme schützend vors Gesicht schlagen. Er darf es nicht sehen!
    »Wie meinst du das?«, rief er.
    Kellhus war unter der unbarmherzigen Sonne zu einem Schatten geworden. Er wandte sich dem Scheusal zu, das sich im Baum krümmte und nach Sonne und Himmel schnappte.
    »Das, Akka…« Seine Worte waren ausdruckslos, als schriebe er sie nur probeweise auf Pergament, um sie nach

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