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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Achamians Wünschen zu ändern. »Das ist deine Prüfung.«
    »Wir werden uns mit blanken Messern über euch hermachen!«, jaulte das Scheusal. »Mit blanken Messern!«
    »Du, Drusas Achamian, bist ein Ordensmann der Mandati.«
     
     
    Nachdem Kellhus ihn verlassen hatte, stolperte Achamian zu einem der riesigen Dolmen, lehnte sich an ihn und erbrach sich ins Gras. Dann floh er zwischen den blühenden Bäumen hindurch und an den Wachen im Säulengang vorbei. Er entdeckte eine von Pfeilern gestützte Vorhalle und darin eine leere Nische. Ohne nachzudenken, kroch er in die schattige Öffnung zwischen Mauer und Pfeiler und umklammerte Knie und Schultern, doch es wollte sich kein Gefühl von Geborgenheit einstellen.
    Nichts war verborgen, nichts versteckt. Sie haben mich für tot gehalten! Wie konnten sie das wissen?
    Aber er ist ein Prophet … oder?
    Wie hätte er es nicht wissen können? Wie –
    Achamian lachte und starrte verstört auf die kaum erkennbaren Ornamente, mit denen die Decke bemalt war. Er fuhr sich mit der Handfläche über die Stirn und mit den Fingern durchs Haar. In der Nähe schlug der Hautkundschafter noch immer brüllend um sich.
    »Jahr eins«, flüsterte Achamian.



2. Kapitel
     
    CARASKAND
     
     
     
    Ich sage euch: Schuld wohnt allein in den Augen des Anklägers. Das wissen die Menschen, auch wenn sie es leugnen, und deshalb ist Mord so oft ihr Sühnedienst. Nicht das Opfer, sondern der Zeuge bekundet die Wahrheit des Verbrechens.
     
    Hatatian: Ermahnungen
     
     
     
    CARASKAND, VORFRÜHLING 4112
     
    Diener und Amtsträger liefen schreiend auseinander, als Cnaiür mit seiner Geisel an ihnen vorbeistürmte. Alarmrufe schallten durch den Palast, doch keiner der Dummköpfe wusste, was er tun sollte. Er hatte ihren geliebten Propheten gerettet. Machte ihn das nicht ebenfalls göttlich? Er hätte gelacht, wenn nicht sein eisernes Hohnlächeln gewesen wäre. Wenn die wüssten!
    Er blieb an einer Abzweigung in den Marmorfluren stehen und riss das Mädchen am Hals herum. »In welche Richtung?«, knurrte er.
    Schluchzend und keuchend sah sie mit schreckgeweiteten Augen den rechten Gang hinunter. Er hatte sich eine Sklavin der Kianene geschnappt, weil ihm klar war, dass sie sich mehr Sorgen um ihre Haut machte als um ihre Seele. Bei den Zaudunyani war das Gift schon zu tief eingedrungen.
    Das Gift des Dûnyain.
    »Die Tür!«, rief sie mit erstickter Stimme. »Die da!«
    Ihr Hals fühlte sich gut an – wie der einer Katze oder eines jungen Hundes – und erinnerte ihn an die Wallfahrten seines anderen Lebens, als er erwürgt hatte, über was auch immer er hergefallen war. Nun aber löste er seinen Griff und sah zu, wie sie stolperte und mit hochgerutschten Röcken auf den schwarzen Boden stürzte.
    Aus den Fluren hinter ihnen drangen Rufe.
    Er rannte zur Tür, auf die sie gezeigt hatte, und trat sie auf.
    Die Wiege stand mitten im Kinderzimmer, und ihr Holz sah aus wie schwarzer Fels. Sie reichte ihm knapp über die Hüften und war in Gaze gehüllt, die an einem Haken von der mit Fresken geschmückten Decke hing. Die Wände waren ockerfarben, und das Lampenlicht leuchtete matt. Es roch nach Sandelholz.
    Die Welt schien zu verstummen, als er die reich verzierte Wiege umrundete. Er hinterließ keine Spur auf den Stadtansichten, die in den Teppich eingewebt waren. Die Lampen flackerten, doch das war schon alles. Er näherte sich der Wiege und schob die Gaze mit der rechten Hand auseinander.
    Moënghus.
    Seine Haut war weiß, und seine Augen waren so leer und doch so leuchtend, wie nur die Augen eines Säuglings es sein konnten: das durchdringende Hellblau der Steppe.
    Mein Sohn.
    Cnaiür streckte zwei Finger aus und sah die vielen Narbenstreifen auf seinem Unterarm. Der Säugling bewegte die Arme, berührte wie durch Zufall eine seiner Fingerspitzen und umschloss sie. Sein Griff war so fest wie der eines winzigen Vaters oder Freundes. Plötzlich wurde sein Gesicht rot und verzog sich vor Schmerz. Er spuckte und begann zu schreien.
    Warum, fragte sich Cnaiür, behielt der Dunyain dieses Kind? Was sah er, wenn er es betrachtete? Welchen Nutzen hatte schon ein Kind?
    Es gab keinen Abstand zwischen der Welt und der Seele eines Kleinkinds, keine Täuschung, keine Sprache. Das Schreien eines Säuglings war sein Hunger. Und es kam Cnaiür in den Sinn, dass dieses Kind ein Inrithi werden würde, wenn er es aufgäbe. Würde er es aber an sich nehmen, sich davonstehlen und in die Steppe Jiünati reiten,

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