Der Tempel zu Jerusalem
vergessen», verkündete Salomo. «Eine Stunde an diesem Ort
zählt mehr als tausend Jahre Paradies.»
Dem
Baumeister schnürte es das Herz zusammen, als er die Stätte betrachtete, die
ihm schon bald nicht mehr gehören würde. Mitten auf dem majestätischen Vorhof
stand ein Altar und links davon das eherne Meer, das von zwölf Bronzestieren
getragen wurde, drei in jeder Himmelsrichtung. Die riesige Schale erinnerte an
den heiligen See von Tanis, in dem sich die Priester im Morgengrauen reinigten,
ehe sie etwas Wasser schöpften, mit dem sie dann das den Göttern angebotene
Essen weihten. Der Rand des ehernen Meeres war wie Blütenblätter geformt. Sie
symbolisierten den aus dem Urmeer wachsenden Lotos, auf dem sich am Urmorgen
die Sonne erhoben hatte. Rings um das Meer standen auf Karren zehn Gefäße, ein
jedes mit einem Inhalt von vierzig Eimern Wasser. Die Priester konnten die
Karren je nach Bedarf während des Gottesdienstes verschieben und daraus das zur
Reinigung der Opfertiere unabdingbare Wasser schöpfen.
Salomo
höchstpersönlich öffnete das Tor der Umfassungsmauer. Zadok und etliche
Priester, die die Bundeslade trugen, schritten langsam hindurch. Die
Gesetzestafeln verließen die alte Stadt Davids für immer. Von nun an würden sie
im Allerheiligsten von Salomos Tempel aufbewahrt werden.
Der Hohepriester
verneigte sich vor dem König, der auf die Bundeslade zutrat und sie ehrfürchtig
berührte. Er erinnerte sich an den gesegneten Tag, an dem er an einen nicht
machbaren Frieden gedacht und die gleiche Geste ausgeführt hatte. Das göttliche
Gesetz hatte seinen innigsten Wunsch erhört. Er schloß die Augen und träumte
von einer Welt, in der die Menschen weder Krieg noch Haß kannten, in der sich
ihre Blicke unaufhörlich zum Tempel richteten, um sich von dort Weisheit zu
holen.
«Hilf mir,
Meister Hiram.»
Der
Baumeister hob die hinteren Tragestangen der Bundeslade an, der König die
vorderen. Das immerhin recht beträchtliche Gewicht erschien ihnen leicht.
Zusammen schritten sie durch die beiden Säulen, durchquerten die Vorhalle, dann
den bêkal, in dem der Altar mit den Duftsalben, der Tisch mit den
Schaubroten und die zehn goldenen Leuchter standen, und gelangten endlich in
das debîr, wo die Cherubim Seite an Seite wachten; sie erhoben sich bis
zur halben Höhe des Allerheiligsten; ihre Flügel berührten sich innen und ihre
Spitzen die Außenmauern und bildeten so ein Gewölbe, unter das die Bundeslade
gestellt wurde.
Der
Oberbaumeister entfernte sich.
Salomo bot
der Bundeslade das erste Weihrauchopfer dar. Die göttliche Gegenwart offenbarte
sich in der duftenden Wolke. Der König spürte, wie ihn ein warmes Licht
umhüllte. Die goldenen Augen der Cherubim glänzten.
Salomo erschien vor seinem
Volk. Er wusch sich die Hände, drehte die Handflächen zum Himmel und übergab
Jahwe den Tempel. Tausende von Gläubigen hatten Tränen in den Augen und fielen
auf die Knie.
«HERR Gott
segne Dein Heiligtum und Deine Gläubigen! Laßt uns unseren Bund mit Ihm
erneuern. Er sei uns gnädig und gewähre uns Seine Hilfe gegen die Mächte der
Finsternis. Der HERR sei mit euch, wie es war im Anfang und von Ewigkeit zu
Ewigkeit. HERR, verlasse uns nicht, laß sich unsere Herzen Dir zuneigen, damit
wir Deine Wege gehen. Jahwe, Gott Israels, es gibt keinen anderen Gott außer
Dir weder im Himmel noch auf Erden, Du, der Seinen Bund hält. Lasse Deine Augen
Tag und Nacht über diesem Tempel, über dieser Stätte wachen, in der Dein Name
lebt.»
Als der Jubel
zum König aufbrandete, packte ihn die Angst. Wohnte Gott wirklich auf der Erde
zusammen mit den Menschen? Wenn sich die Himmel der Himmel als zu klein für Ihn
erwiesen, was war dann mit dem Tempel in Jerusalem?
Zwei
lächelnde Menschen beschwichtigten seine Furcht.
Der erste war
Hiram, der gar prächtig anzusehen in seinem Purpurumhang vor dem ehernen Meer
stand.
Die zweite war Königin
Nagsara im Prachtgewand links vom Hohenpriester und etwas hinter ihm.
Einer wie der andere wirkten
froh und stolz. Beruhigt stieg Salomo die Stufen zu dem großen, zwanzig Ellen
hohen Altar hoch, der am hinteren Rand des Vorhofes aufgestellt war.
Der
Oberbaumeister, der Hohepriester und die Königin bildeten ein Dreieck, dessen
Mitte Israels König war. Um sie herum viele Priester. Schwungvoll riß die
Leibwache das große Tor der Umfassungsmauer auf und gab den Pilgern den Weg
frei, die jetzt auf den Hof strömten.
Tiefes
Schweigen machte sich breit.
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