Der Tempel zu Jerusalem
sprachen
eine andere Sprache, fühlten sich als Brüder, teilten dasselbe Ideal, dieselben
Geheimnisse und dieselben Pflichten. Hiram hatte sein erstes Ziel erreicht: Er
hatte in einer kleinen Gruppe, die dazu bestimmt war, die anderen Arbeiter
anzuleiten, einen inneren Zusammenhalt hergestellt.
Ein
entscheidender Schritt kündigte sich an, nämlich die rituelle Lehrlingsfeier.
Die Zeremonie fand eines Nachts bei Vollmond statt und dauerte bis zum
Morgengrauen. Jeder Neuling wurde nach einer vorübergehenden Isolation vor
einen vom Oberbaumeister winklig behauenen Stein gestellt und gelobte, das
große Werk weiterzuführen und in Demut am Bau des Tempels mitzuarbeiten. Die
völlig nackten Lehrlinge wurden mit reinigendem Wasser bespritzt. Und nachdem
sie Blutsbruderschaft geschlossen hatten, ließ Hiram sie die Flamme einer
Fackel betrachten, die dazu diente, die Wunden auszubrennen.
Als der
Oberbaumeister seinen Lehrlingen die weiße Lederschürze umband, gab er jedem
einen neuen Namen, das Symbol ihrer Wiedergeburt im zukünftigen Tempel, dessen
lebendige Steine sie sein würden.
Berauscht von Müdigkeit und
Glück, schliefen die Schüler ein. Kaleb hatte sein Lager aus frischem Stroh
aufgesucht und freute sich, daß die mühselige Zeit des Unterrichtens ein Ende
hatte. Anup schlief auch. Die Baustelle lag verlassen. Sie belebte sich wieder
mit den ersten Sonnenstrahlen, wenn die Sterne in den Riesenleib der Witwe von
Osiris, nämlich Isis mit der Sternenkrone, zurückkehrten und die Welt in
unsichtbares Licht hüllten.
Hiram grüßte
den Wächter auf der Schwelle und trat durch den Umfassungszaun. Er ging an den
Zelten vorbei, in denen sich die Gruppen der Zeitarbeiter aufhielten, die man
für die Frondienste angefordert hatte. Auf die stille Leere würde schon bald
wilder Aufruhr folgen. Das Lager endete in einer mit Gestrüpp bestandenen
Gegend, wohin sich nur Füchse wagten.
Vor einem
abgestorbenen Baum stand eine Frau in langem, weißem Gewand, der die schwarzen
Haare auf die Schultern fielen.
«Ich bin Israels Königin»,
sagte Nagsara. «Und bin gekommen, weil ich deine Baustelle besuchen will,
Meister Hiram.»
«Nur dieser
Teil ist zugänglich, Majestät.»
«Warum dieser
Zaun, warum diese Geheimniskrämerei?»
«So fordert
es unsere Regel.»
«Und läßt die
keine Ausnahme zu?»
«Keine.»
«Ich habe
auch ein Geheimnis. Aber ich bin nicht so geizig wie du.»
In der
blaurosigen Morgendämmerung meinte Hiram, eine schattenhafte Gestalt zu sehen,
die sich hinter ein Zelt schlich. Da er keinerlei Geräusch hörte, handelte es
sich wohl um eins der letzten Nachtgespenster, das ins Nichts zurückkehrte.
Nagsara trat ganz nahe an den
Oberbaumeister heran. Sie entblößte ihre Kehle.
«Da, sieh»,
sagte sie. «Die Götter haben deinen Namen in mein Fleisch gebrannt. Warum?
Welches Geheimnis hütest du, daß ich darunter leiden muß?»
Die Lettern
leuchteten, als würde die weiße Haut der Königin von einem Feuer erhellt, das
in ihren Adern rann. Hiram hatte die kleine Nagsara nur auf Festen gesehen,
wenn der Pharao umgeben von seiner Familie vor das Volk trat. Jetzt entdeckte
er eine junge Frau von zerbrechlichem Reiz, die wie er zur Verbannung
verurteilt war, jedoch mit Salomo zusammenlebte, dem Mann, der einem
ägyptischen König ebenbürtig war. Wen hätte diese entblößte Schönheit in der
milden, morgendlichen Klarheit nicht beunruhigt, diese unwirkliche Vision einer
Königin, die sich nicht scheute, ein Wunder vorzuzeigen.
Nagsara
merkte, daß Hiram besorgt war. Sie bedeckte ihren Hals und legte die Hände auf
die Brust des Oberbaumeisters.
«Mein
Schicksal ist unauflöslich mit deinem verbunden», sagte sie. «Ich muß dieses
Rätsel lösen. Weigerst du dich, mir zu helfen?»
«Die Götter mögen mich vor
Feigheit bewahren.»
Nagsaras
Handflächen waren weich. Hiram wünschte sich, der Augenblick möge länger
dauern, doch die Königin wurde sich jählings ihrer Tollkühnheit bewußt und trat
zurück.
«Wir sehen
uns im Palast wieder. Israel hat viele Propheten. Einer von ihnen wird den
Schleier lüften.»
Die weiße
Gestalt schien sich in der Staubwolke aufzulösen, die der Wüstenwind
aufwirbelte. Hiram schloß die Augen. Was hatte diese Erscheinung zu bedeuten?
Bislang hatte er nur gegen Salomo und sich selbst kämpfen müssen. Der Tempel
hatte Besitz von seiner Seele ergriffen und ihn die Außenwelt vergessen lassen.
Nagsara erinnerte ihn an Liebschaften am Nilufer, in
Weitere Kostenlose Bücher