Der Tempel zu Jerusalem
Nebengebäude
breiteten sich immer weiter um den schlichten Kern aus, dessen Mittelpunkt die
Zeichenwerkstatt war. Einige hatten bereits Erfahrung, andere arbeiteten hier
zum ersten Mal. Hiram unterstellte sie den Arbeitern, die er in Ezjon-Geber
ausgebildet hatte. Es war noch zu früh, als daß er sie nach den rituellen
Graden einteilen konnte, wie man sie in Ägypten kannte. Hiram erteilte jeden
Tag seine Anweisungen und konnte sie so ständig überwachen. Er merkte sich
Mutige, Faule, Aufmerksame, Schlampige, Fähige und Unfähige. Um die Schlucht aufzufüllen,
brauchte man keine besonderen Fähigkeiten, nur eine vollendete Organisation.
Daher ernannte Hiram Werkmeister, die seine Befehle ausführen konnten.
Einige Wochen
später hatte sich Jerusalems Aussehen verändert. Der Felsen thronte nicht mehr
in prachtvoller Einsamkeit, sondern war durch einen langgezogenen Hang
erreichbar geworden, der bei den ersten Häusern der Unterstadt endete.
Jedermann war stolz auf das Ergebnis und spürte, daß Salomos Traum Wirklichkeit
werden könne. Hiram hatte den wilden Fels gezähmt und seine Beschaffenheit
verändert. Die hochmütige Felsspitze wurde zur bescheidenen Grundlage des
zukünftigen Heiligtums.
Salomo war
auf keinen Widerstand gestoßen. Es hatte keine Fehlschläge gegeben, keine
Proteste in der Bevölkerung. Israel wurde von einer magischen Welle zu einem
neuen, leuchtenden und herrlichen Horizont getragen. Von den benachbarten
Landstrichen trafen Glückwünsche ein. Der von Salomo angestrebte Frieden wurde
von Tag zu Tag dauerhafter. Der mit Ägypten geschlossene Nichtangriffspakt, die
Anwesenheit einer Pharaonentochter am israelitischen Hof schreckten Aufrührer
davon ab, sich offen zu zeigen.
Begann jetzt
eine Ära des Glücks? Nahm die heilige Stadt auf dem Jerusalem bekrönenden
Felsen Gestalt an? Neuer Glaube erblühte in den Herzen. Wenn es nicht gottlos
gewesen wäre, einen Menschen als Gott zu verehren, man hätte Salomo angebetet.
Hiram hielt
sich im Schatten und gönnte sich weder Ruhe noch Ablenkung. Er ging in seiner
Arbeit auf, denn er mußte gute Arbeiter ausbilden, und erhoffte sich, daß aus
ihnen die hervorragenden Handwerker würden, die er demnächst brauchte. In
Israel konnte er sich nicht auf die von den Landvermessern der ägyptischen
Tempel geduldig ausgebildeten Lehrlinge verlassen. In wenigen Monaten mußten die
hiesigen Arbeiter etwas anwenden, was die Schüler in der Regel in mehreren
Jahren erlernten. Das beunruhigte ihn an diesem verrückten Unterfangen am
meisten: Er mußte sich darauf verlassen, daß einige von ihnen eine besondere
Begabung zeigten und dann vor Ort eine Lerngemeinschaft bildeten. Wie gern
hätte Hiram die Hilfe von anderen Oberbaumeistern gehabt! Aber das war ein
frommer Wunsch. Die Bruderschaft des Steins hatte ihm die Wirklichkeit gezeigt,
Träume, daß er Hilfe bekam, waren reine Zeitverschwendung.
Der
Oberbaumeister brachte es auf eine Liste mit gut fünfzig Namen. Das waren die
Lehrlinge, die er in die Wissenschaft des Tempelbaus, die Handhabung der
Werkzeuge und das Verlegen der Steine einführen würde. Er schrieb gerade, als
der Widerhall eines Aufruhrs am einzigen Zugangstor an sein Ohr drang.
Jemand wollte
sich gewaltsam Zutritt zur Baustelle verschaffen.
Gebell
begrüßte den herannahenden Oberbaumeister. Hiram erkannte das Gekläff seines
Hundes, der sich bis zu ihm durchgeschmuggelt hatte, während Kaleb von mehreren
Arbeitern festgehalten wurde. Die Hilferufe des Hinkefußes waren nicht
vergeblich. Hiram bewahrte ihn vor den groben Händen, die ihn mißhandeln
wollten.
«Weißt du denn nicht, daß
dieser Platz für Unbefugte verboten ist?»
«Ich muß mit dir reden, mein
Fürst! Deinen Hund, ja, den läßt du ein…»
Und dann
stürzte sich Kaleb in eine lange Jeremiade, beschwerte sich, daß man ihn
verlassen hätte, daß er fröre, daß er seine Bedürfnisse nicht mehr bestreiten
könne, daß er elend zugrunde ginge, daß Jahwe höchstpersönlich ihn verdammt
hätte.
Hiram
unterbrach den Redefluß und führte ihn bis zu einem Gebäude, das verschlossen
war. Er sperrte die Tür auf. Kaleb sah einen Raum, der zweimal so lang wie
breit war und dem drei vergitterte Fenster Licht spendeten.
«Wenn du auf
die Baustelle willst, mußt du eine Prüfung machen. Hier und jetzt.»
Kaleb fuhr
einen Schritt zurück.
«Mein Leben…
ist mein Leben dabei in Gefahr?»
«Gefährlich
ist sie durchaus», bekannte Hiram.
«Aber du
hilfst deinem Diener
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