Der Tempelmord
Vorderseite die Front des Artemisions und auf der Rückseite eine Palme. »Woher kommt dieses Geld? Solche Münzen habe ich noch nicht gesehen. Was ist das für ein Tempel?«
»Es ist das Haus, in dem die mächtige Göttin Artemis wohnt.«
Die Alte grunzte etwas Unverständliches, dann biß sie in eine der Münzen und versuchte, sie zu biegen. Anschließend ließ sie jedes der Geldstücke vor sich auf den gepflasterten Boden des Marktplatzes fallen und lauschte dabei auf den Klang.
Endlich grinste sie zufrieden und ließ die Silberstücke in einer Falte ihres Gewandes verschwinden. »Ich kenne die Münzen zwar nicht, doch sie sind aus gutem Silber geschlagen. Welche der Wachteln möchtest du mitnehmen? Such dir eine aus, Priesterin!«
»Gib mir deine Schönste. Du kennst deine Vögel am besten, Alte, und bedenke dabei, was es dich kosten mag, eine ägyptische Zauberpriesterin zu verärgern.«
»Dienst du der Isis? Du wirst mir doch nicht etwa zürnen, weil ich einen gerechten Preis für meine Ware gefordert habe? Du wirst sehen, daß ich dich nicht übervorteilt habe.« Die Händlerin schob ihre Käfige auseinander und holte eine besonders große Wachtel hervor. »Sieh dir nur dieses Vögelchen an. Hast du je ein prächtigeres Exemplar gesehen?« Mit den Flügeln schlagend versuchte sich die Wachtel dem Griff der Alten zu entwinden. Mit geübter Geste klemmte sich das Marktweib den Vogel unter die rechte Achsel, packte einen der Flügel und verdrehte ihn, so daß Samu deutlich das Knacken der dünnen Flügelknochen hören konnte. Das Rufen der Wachtel wurde immer schriller und klagender. Gleichzeitig erhob sich in den Käfigen rundherum ein infernalisches Schnattern und Gackern. Davon ungerührt brach die Marktfrau der Wachtel auch noch den zweiten Flügel. Dann packte sie den Vogel bei den Füßen und reichte ihn Samu. »Du mußt das Tierchen an den Füßen festhalten und mit dem Kopf nach unten tragen. Dann wird es sich ruhig verhalten und dir keinen Ärger machen, Priesterin. Mögen die Götter deinen Weg segnen!«
»Möge Isis jedes Unheil von deinem Haus fernhalten.«
Der Tempel des Melkart war so alt wie die Stadt, ein gedrungener Bau aus bunt glasierten Ziegeln, die Bilder von geflügelten Ungeheuern zeigten, über die der mächtige Stadtgott triumphierte. Im Inneren des Tempels waren die Wände mit prächtigen Alabastereliefs geschmückt, die von den Taten des Gottes erzählten und Gesandte aus allen Völkern der Welt zeigten, die dem mächtigen Baal Melkart Geschenke brachten.
Die Türrahmen waren von riesigen Vogeldämonen flankiert, die jeden Eindringling mit kalten, steinernen Augen musterten. Der Duft von Weihrauch und Myrrhe zog durch den Tempel, und irgendwo erklang das metallische Klappern von Gebetsrasseln. Schließlich trat
Samu in einen Raum, an dessen Ende sich eine riesige, ganz mit Goldblech beschlagene Tür erhob. Zwei Säulen flankierten das Tor. Die eine schien ganz aus lauterem Gold zu bestehen, und ein Bildfries mit Schiffen zog sich in Spiralen um ihren schimmernden Leib. Die andere Säule war von tiefem Grün, als sei sie aus Smaragd geschnitten, und von ihrem Inneren ging ein unstetes Leuchten aus, ganz so, als habe man eine Flamme in ihr eingefangen.
Voll ehrfürchtigem Staunen betrachtete Samu die Smaragdsäule, als ein Priester an ihre Seite trat. Der Mann war von schwer zu schätzendem Alter. Sein Kopf war kahlgeschoren, und selbst die Augenbrauen hatte man ihm abrasiert.
Schwarze Lidstriche umrandeten seine Augen. Er trug ein langes, weißes Gewand und darüber einen mit purpurnen Fransen geschmückten Umhang. »Ich sehe, du bist gekommen, dem Gott zu opfern, Tochter. Welche Bitte soll ich dem Mächtigen in deinem Namen vortragen?«
»Ich flehe den Lichtbringer an, daß er meinem Aufenthalt in dieser Stadt wohl gesonnen sein möge und daß er seine schützende Hand über mich halte. Möge er wie das Licht der Fackel den Schleier der Dunkelheit um jenes Geheimnis zerreißen, das zu ergründen mir bestimmt ist.« Samu reichte dem Priester die Wachtel, und er trat zu einem der Altäre, die in den Nischen an den Seitenwänden des Heiligtums standen.
Einige Augenblicke vergingen, bis der Priester wieder zu ihr zurückkehrte und ihr seine blutbefleckten Hände entgegenstreckte. »Der Himmelswanderer hat deine Bitten günstig aufgenommen, Tochter. Er wird den Schatten des Geheimnisses vertreiben, doch wird dunkle Trauer über deinem Herzen liegen, wenn du unsere Stadt
Weitere Kostenlose Bücher