Der Teufel in dir: Thriller (German Edition)
verfügte er über einen sechsten Sinn, der ihn zu einem besonderen Menschen machte. Byrne fühlte sich ganz und gar nicht besonders. Nein, es war eher ein Gespür für die Präsenz eines Wesens, das sich in einem Raum aufgehalten hatte, den er betrat. Manchmal erschien Byrne an einem Tatort, an dem der Mörder sich gerade eben noch aufgehalten hatte. Immer dann fühlte er sich, als wäre er einen flüchtigen Augenblick lang in die Haut des Mörders geschlüpft. Es war ein widerliches Gefühl – und sei es nur für eine Sekunde –, eine vollkommen gefühllose Seele zu spüren, ein Herz, das keine Trauer und keine Schmerzen kannte.
Wenn Byrne nachts Albträume quälten, wünschte er sich oft, dass das zweite Gesicht verschwand. Genauso oft aber wünschte er sich, er könnte diese Gabe weiterentwickeln, damit sie klarer wurde, deutlicher, und dass er sie steuern könnte. Aber das geschah nie. Es kam und verging, ohne dass er Einfluss darauf hatte, und so würde es wohl immer bleiben.
Doch seit er von seiner Gabe wusste, war Byrne sicher gewesen, dass er eines Tages einen Tatort betreten und wissen würde, dass es der Anfang vom Ende war.
Dann würde er sich dem Entscheidungskampf stellen und Position beziehen müssen: Gut oder Böse.
Byrne hatte keine Ahnung, woher er es wusste, aber er wusste es.
Dieser Tag war nun gekommen.
*
Im Eingangsbereich des alten Hauses befand sich linker Hand eine schmale Tür mit verrosteten Angeln, die einen Spalt offen stand und deren Pfosten völlig verzogen waren. Byrne drückte mit der Schulter gegen die Tür, bis sie sich so weit öffnete, dass er sich hindurchzwängen konnte.
Er stieg die Wendeltreppe zum Glockenturm hinauf. Oben angekommen, betrat er den Turm. Die Glocke war längst verschwunden, und die beiden kleinen Fenster waren mit schmalen Holzlatten vernagelt.
Byrne riss ohne Mühe ein paar Latten ab, denn das Holz war morsch und ausgetrocknet. In dem trüben Licht, das durch die Öffnung drang, konnte er vom Treppenabsatz aus alles besser erkennen.
Er schloss die Augen, als er spürte, wie die Eindrücke auf ihn einstürmten. Von einer Sekunde zur anderen wusste er …
… dass das Böse soeben erwacht ist und Mutter und Kind, Mutter und Kind, Mutter und Kind …
… Mutter und Kind.
Byrne öffnete die Augen, schaute aus dem Fenster. Er sah Jessica auf der Straße. Sie sprach mit einem Kriminaltechniker. Neben Jessica standen Maria Caruso und Josh Bontrager. Hinter ihnen hatten sich ungefähr dreißig Leute versammelt, die genau verfolgten, was heute hier geschah. Viele davon waren Frauen …
… ein Kind zur Welt gebracht, das eines Tages zu einem Mann heranwachsen und die Sünden seines Vaters sühnen würde, indem er sein eigener Vater wurde, ein Mann, der durch die dunklen Winkel der Nacht wandert und …
… mordet.
Byrne dachte an Jessica, an ihre Tochter und den Jungen, den sie und ihr Mann adoptiert hatten. Er dachte an seine Ex-Frau Donna und ihre gemeinsame Tochter Colleen, die sich irgendwann verlieben und ein eigenes Kind haben würde. Er dachte an Tanya Wilkins und ihre Söhne Gabriel und Terrell. Er dachte an all die Frauen, die sich für ihre Söhne und Töchter nur das Beste wünschten. Er dachte an jenen Tag vor vielen Jahren, als er eine Kirche betrat und die kleine Gestalt in dem blutroten Mantel in der letzten Bankreihe sitzen sah. Den Geruch des Todes würde er für immer in seiner Seele bewahren.
Mutter und Kind, dachte Byrne.
Mutter und Kind.
8.
Als sie ins Roundhouse zurückkehrten, war das Opfer bereits in die Rechtsmedizin gebracht worden. Dort würde ein Kriminaltechniker die Fingerabdrücke nehmen und die Leiche als die eines Unbekannten protokollieren. Fingerabdrücke von Opfern wurden selten – wenn überhaupt – an einem Tatort genommen. Sobald die Abdrücke gesichert waren, wurden sie an Spezialisten geschickt, die sie dann durch die IAFIS-Datenbank laufen ließen, das »integrierte automatische Fingerabdruck-Erkennungssystem«, das vom FBI verwaltet wurde. Falls das Opfer jemals verhaftet worden war oder für eine staatliche Behörde gearbeitet hatte, waren die Fingerabdrücke in dieser Datenbank gespeichert.
Während Jessica wartete, begann sie mit dem Papierkram. Dazu gehörte auch, die sogenannte Körperskizze auszufüllen. Dabei handelte es sich um ein Standardformular der Polizei mit vier Skizzen des menschlichen Körpers – Vorder- und Rückseite sowie linke und rechte Seite. Dieses Formular bot außerdem Platz
Weitere Kostenlose Bücher