Der Teufel in dir: Thriller (German Edition)
Zweijährige sprach sie das Dankgebet am Esstisch der Familie, der nur aus einer schlichten Holzplatte bestand, auf der kaum mehr als Pellkartoffeln und sonntags ein Stück gekochtes Lammfleisch standen.
In ihrer Kindheit besaß Ruby eine eselsohrige Ausgabe der King-James-Bibel. Sie lag in ein Tuch gewickelt auf dem Boden neben dem Bett, das sie mit ihren Schwestern Esther und Ruth teilte. Wenn sie nachts nicht schlafen konnte, las sie im Mondlicht in der Heiligen Schrift. Die Worte spendeten ihr Trost, stillten den Hunger in ihrem Bauch und die Sehnsucht ihres Geistes.
Als Ruby und ihre Schwestern zu jungen Mädchen heranwuchsen, kam ihr Vater oft in ihr Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. Er roch nach Motoröl und billigem Fusel und rückte jede Nacht näher an seine Töchter heran. Elijah Longstreet war ein grobschlächtiger Mann, der schnell in Wut geriet.
In der Nacht, als er sich neben Esther legte, tat Ruby so, als würde sie schlafen. Ihre Augen waren geöffnet, und sie sah die Schatten an der Wand, die sich hoben und senkten. Sie hörte das gedämpfte Flehen ihrer Schwester. Körpergerüche und der Gestank von Alkohol stiegen ihr in die Nase.
Einen Monat später verschwand Esther. Tagelang lief Ruby bis zum Ende der langen, staubigen Zufahrt und hielt nach ihrer Schwester Ausschau. Esther kehrte nie mehr zurück.
Hat Gott sie zu sich geholt?, fragte Ruby sich. Sie wusste es nicht und wagte nicht zu fragen.
In der Nacht, als Rubys Vater zu ihr kam, blieb er lange auf der Bettkante sitzen. Im letzten Winter hatte Elijah Longstreet die Hälfte seines Gewichts verloren. Er war so mager geworden, dass er in der Nacht, als er zu Ruby kam, nur noch aus Haut und Knochen bestand. Er kam dennoch. Das Bedürfnis, das der Teufel in seine Seele gepflanzt hatte, war zu stark.
Ehe er sich auf Ruby legen konnte, begann er so heftig zu husten, dass nicht nur das Bett, sondern der ganze Raum zu beben schien. Ruby würde dieses Geräusch niemals vergessen, diesen widerlichen, röchelnden Husten ihres besoffenen Vaters.
Im Morgengrauen lag Elijah Longstreet tot neben dem Bett. Er hatte seine Tochter nicht angerührt, hielt stattdessen Rubys Bibel in den Händen. Der Zeigefinger seiner rechten Hand steckte zwischen den Seiten der Offenbarung, und sein Kopf lag in einer Lache aus Blut und Galle.
Alle wussten, was Elijah Longstreet in Rubys Zimmer getan hatte, aber es wurde niemals darüber gesprochen. An dem Tag, als er in dem kleinen Familiengrab hinter den Nebengebäuden beerdigt wurde, schaute Rubys Mutter aus dem Wohnzimmerfenster, doch sie setzte keinen Fuß auf das Grab.
Dies alles geschah sechs Monate bevor der Wanderprediger ins Dorf kam. In dieser Zeit schoss Ruby Longstreet förmlich in die Höhe. Sie war für ihr Alter sehr groß und kein Kind mehr. Allerdings hafteten ihr noch die ein wenig ungelenken Bewegungen eines jungen Mädchens an.
An dem Abend, als der Wanderprediger seine letzte Predigt in diesem Ort hielt, überquerte Ruby das Feld und lief auf das Zelt zu. Die Klänge des Liedes »Give Me Oil in My Lamp«, das Ruby auswendig kannte, erfüllten die Sommernacht und hallten von den umliegenden Hügeln wider.
Als Ruby sich dem Zelt näherte, beobachteten sie zwei Männer, die an einem alten Pick-up lehnten, dessen linker Kotflügel notdürftig mit Draht befestigt war. Einer der beiden musterte sie, wie ihr Vater es manchmal getan hatte, mit feuchten Lippen und einem schmierigen Lächeln. Der andere, der ältere Mann, wies mit dem Kopf auf das Zelt. Ruby roch den Gestank von billigem Fusel auf dem ganzen Weg bis zu ihrem Ziel.
Schließlich nahm Ruby all ihren Mut zusammen. Ihr Herz klopfte vor Angst und Aufregung. Der fröhliche Gesang wurde lauter.
Sie betrat das Zelt und sah zum ersten Mal den Prediger.
*
Wie eine göttliche Erscheinung stand der junge, hübsche Mann in einem weißen Leinenanzug und einem zitronengelben Hemd im vorderen Bereich der Kirche genau unter dem Kreuz vor fast hundert Menschen. Er war gertenschlank, und seine anmutigen Bewegungen glichen denen einer Katze. Er strahlte ungeheuere Kraft aus, eine Energie, die man sogar dann noch spürte, wenn er sich nicht bewegte. Das helle Licht über dem Rednerpult schuf hinter dem Kopf des Predigers eine goldene Aura. Ruby war überzeugt, dass ihn der Heilige Geist erfüllte.
Sie wusste, dass die schwere Kindheit des Predigers sich nicht sehr von ihrer eigenen unterschied. Sie wusste alles über ihn, weil der Prediger ein Buch
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