Der Teufel in Frankreich
einzugestehen; zu oft waren wir enttäuscht worden.
Ich, als ich den Anschlag sah, war sicher, daß sein Inhalt stimmte. Ja, der Zug wird abgehen, wir werden den Nazis entkommen. Ich schämte mich, daß ich eine kurze Weile kleingläubig gewesen war.
Zudem fiel mir auf einmal ein, was nach jenem von mir vergeblich gesuchten Kommentar der Ausspruch des Sokrates bedeuten sollte. Wenn er seine Freunde aufforderte, dem Asklepios, dem Gott der Heilkunst, der Chemie, einen Hahn zu opfern, dann deshalb, weil er, die Wirkung des Gifttrankes spürend, dem Himmel danken wollte, daß er den menschlichen Geist erfinderisch genug gemacht hatte, Drogen so genau nach Wunsch und wirksam zu dosieren. Ich freute mich, daß mein Gedächtnis einmal nicht versagt hatte, und nahm es als gutes Zeichen.
Befehl kam, am nächsten Tag um drei Uhr aufzustehen, um fünf Uhr abmarschbereit anzutreten, das Gepäck aufs Dringlich-Notwendige beschränkt.
Vorbereitungen wurden getroffen. Viele hatten ins Lager ihren letzten Besitz mitgenommen. Was sollten sie noch weiter mitschleppen, was zurücklassen? Sie packten, schnürten, sonderten aus, änderten ihre Meinung, entschnürten, packten von neuem ein, ließen anderes zurück. Was war »dringlich-notwendig«? Sie musterten immer von neuem. Viele schenkten, was sie jetzt zurücklassen mußten, den Bleibenden, viele verschacherten es.
Zahlreiche kamen und drangen mit Fragen auf mich ein. Da waren jene, die immer noch nicht, auch jetzt noch nicht wußten, ob sie nun gehen sollten oder bleiben. Dann gab es solche, die Zweifel hatten, ob sie auch wirklich mitgenommen würden. Der Platz war knapp, das war klar. Wenn er nicht für alle reichte, wird man nicht doch noch einmal mustern? Wird man dann nicht gerade sie zurücklassen? Sie wandten sich, die Armen, an mich. Genügte wirklich die Eintragung in die Liste? War es sicher, daß alle mitgenommen würden? Da sie ja keinen Zutritt zum Kommandanten hätten, wohl aber ich, sollte ich doch zu ihm gehen und ihm auseinandersetzen, wie gefährdet gerade sie seien. Fünfzig Mal, hundert Mal mußte ich die gleichen beruhigenden Versicherungen abgeben.
Auch in dieser Nacht schliefen die meisten schlecht. Leise Zweifel nagten am Zuversichtlichsten, leise Hoffnung war im Kleingläubigsten.
Ich selber schlief gut in dieser kurzen Nacht in Les Milles, und als das Signal kam »Aufstehen«, riß es mich aus tiefem Schlaf.
Alle waren angeregt. Geschäftiges Leben war. Nochmals wurde allerletzte Musterung gehalten unter den Sachen, die man mitnehmen wollte. Jeder machte sein Zeug fertig, schnürte im Wortsinn sein Bündel.
Ein sonderbar gespanntes Verhältnis war über Nacht entstanden zwischen denen, die gehen und denen, die bleiben sollten. So lange war man jetzt zusammen gewesen, zusammengeschweißt durch die gleichen Hoffnungen und Ängste, durch die gleichen Lebensbedingungen; jetzt trennten sich die Wege, vielleicht, wahrscheinlich für immer. Viele waren enttäuscht, daß solche blieben, die sie als nächste Kameraden angesehen, von denen sie bestimmt erwartet hätten, sie würden mitkommen. Ja, ein merkwürdig zwiespältiges Gefühl trennte die zum Transport Bestimmten und die Zurückbleibenden. Es war drei Uhr morgens. Das Signal, aufzustehen, galt nur jenen, die sich in die Listen hatten eintragen lassen, die andern hätten ruhig liegenbleiben können. Das aber taten sie nicht. Vielmehr standen sie auf, sie drückten sich zwischen uns herum, suchten sich nützlich zu machen, halfen uns packen, schleppten unsere Sachen über die schmale, gebrechliche Treppe, gaben uns freundlich gemeinte Geschenke mit auf den Weg. Sie wußten genau, was die Abziehenden dachten, nämlich daß sie, die blieben, doch offenbar annahmen, sie hatten von den Nazis nichts zu fürchten, daß also sie, die Bleibenden, »Verräter« seien. Das waren nun die meisten wirklich nicht, es gab in unserm Lager wenige, die ernstlich mit den Nazis sympathisierten. Wer blieb, tat es, weil er sich zu alt und zu gebrechlich fühlte, die Strapazen des Transports auszu halten, oder es waren jene armen Teufel, die eben nicht aus noch ein wußten und glaubten, durch ihr Bleiben ihr Leben und das ihrer Angehörigen eher zu retten. Es bedrückte sie, daß wir sie falsch einschätzten. Sie bemühten sich, uns und sich selber darzutun, daß sie gar nicht anders handeln könnten, als sie handelten, und wenn wir abwinkten und sagten: »Schon gut«, dann ließen sie gleichwohl nicht ab, sondern fingen
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