Der Teufel in Frankreich
aus, daß ich ihn nicht mehr anrühren mochte.
Endlich fuhr der Zug los. Doch er fuhr langsam, und schon nach kurzer Zeit, nach einer kleinen halben Stunde, machte er von neuem halt.
Da gaben viele die Hoffnung auf, daß hier noch Rettung sei. Der Abend war eingefallen, es war kalt, es regnete in Strömen. Aber sie hielten es nicht länger aus in unserm Todeszug. Sie kletterten hinaus in den regnichten, hoffnungslosen Abend, wohl an die hundert. Auch Alte waren darunter, Schwerbewegliche. Es war ein trostloser Anblick, diese Menschen zu sehen, wie sie zerlumpt und zerfetzt über die feuchten Wiesen stapften, mühselig, im schweren Regen, ohne Gepäck, ohne Kleider, ohne Geld, ohne Papiere, ins Ungewisse hinaus, in ein Land ohne Freunde, das morgen, vielleicht noch in dieser Nacht, von ihren schlimmsten Feinden besetzt sein wird.
Viele meiner Bekannten habe ich so zum letzten Mal gesehen, über die feuchten Wiesen stapfend, in die ein fallende Nacht hinein, in die äußerste Unsicherheit hinein. Unter denen, die so davongingen, war jener Maler aus Sanary und sein junger Sohn. Auch der ruhige Herr mit dem Knabengesicht, der gute Organisator, war unter ihnen und jener Biolog, der in Les Milles mein Nachbar im Stroh gewesen war und der Les Milles und sein Asthma so tapfer und klaglos ertragen hat. Sie und manche andere habe ich damals zum letzten Mal gesehen, eine halbe Stunde hinter Bayonne, und ich habe seither nichts mehr von ihnen gehört.
Hier geschah es auch, daß meine jungen österreichischen Freunde mich verließen. Sie hatten jetzt eine gute Landkarte aufgetrieben, und sie drängten: »Der Zug steht und wartet, und die Nazis holen ihn sicher ein, und alles ist besser, als sich hier im Zug schnappen zu lassen.« Und sie stellten mir ein Ultimatum: »Gehen Sie oder gehen Sie nicht? Wir gehen jetzt.«
Ich erwog noch einmal das Für und Wider. Für die nächste Stunde oder für die nächsten zwei oder drei Stunden, damit hatten die Jungens recht, war die Gefahr innerhalb des Zuges größer als außerhalb. Aber strebte man eine Rettung über die nächsten Stunden hinaus an, dann durfte man den Zug nicht aufgeben. Auf die Dauer war der einzelne in dem von den Nazis besetzten Gebiet verloren. Ich dankte meinen Österreichern, ich dankte ihnen von Herzen, und ich blieb.
Auch meine jungen Österreicher habe ich seither nicht wiedergesehen.
In dem Wagen, in dem ich mich jetzt befand, war es noch immer so eng, daß an Sitzen nicht zu denken war. Habsüchtige Hände suchten die zurückgelassenen Sachen der Entflohenen an sich zu raffen, die Enge des vollgepackten Wagens machte den Streit um die Beute noch wüster.
Und dann wurde es dunkel, und dann wurde es Nacht, und es regnete, und die feuchte Kälte drang einem unter die Haut. Wir waren todmüde, erschöpft von der Spannung und Erregung des Tages und voll von Furcht, jetzt, im nächsten Augenblick, werde der Zug von motorisierten Hitler-Leuten überfallen werden. Elend, Angst, Erschöpfung machten uns gereizt, bösartig. Jeder haßte jeden, jeder stritt sich mit jedem, nie in meinem Leben habe ich so unflätige Flüche gehört wie in dieser Nacht, und das breite Österreichisch, sonst so behaglich und angenehm, ließ die Flüche noch gemeiner klingen.
Und es stöhnten die Kranken, und es schimpften die Gesunden, und es waren einige, die schnarchten, und der Wagen war voll von Nacht und Furcht und grauenvollem Gestank. Wir standen und schwankten hin und her, einige schluchzten, alle wünschten sehnlichst: Oh, wäre es Morgen. Und sooft der Zug hielt, erschraken wir tief in unserm Herzen und fürchteten: Jetzt sind sie da, die Deutschen.
Einmal hielt der Zug in einem Tunnel. Es war stockdunkel, und der Zug hielt lange. Doch diesmal fluchte keiner von uns, und keiner jammerte, auch die Kranken nicht, und keiner regte sich. Es war eine tödliche Stille, man hörte nichts als den Schlag unserer Herzen. Denn über den Hügel, innerhalb dessen unser Zug hielt, fuhren deutsche Motorkolonnen.
Und dann hieß es, die Gefahr sei vorbei, und wir fuhren weiter, und der Regen wurde stärker, und die Nacht wurde kälter. Jedes Glied, jedes Haar tat mir weh vor Müdigkeit. Doch selbst als die Zeit kam, da ich mich niedersetzen durfte, konnte ich nicht einschlafen. Und in meine schmerzhafte, schlafgierige Müdigkeit hinein klang eine Stimme, klang und klagte die ganze Nacht hindurch, monoton: »Gott meiner Väter, Gott meiner Väter.« – »Halt’s Maul«, schrie man.
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