Der Teufel in Frankreich
oder Unglück. Es regnete in Strömen, der Nachmittag rückte vor, alles war grau, hoffnungslos.
Meine Freunde, die jungen Österreicher, kamen zu mir. Forderten mich auf, nicht länger zu zögern, sondern mit ihnen durchzugehen. In diesem völlig desorganisierten Südfrankreich könne man ohne Mühe und Gefahr untertauchen. Eine so günstige Gelegenheit werde nicht wiederkommen. Der Zug sei auffällig. Von dem Zug würden die Hitler-Leute bestimmt hören.
Das alles war richtig. Doch was der Kommandant gesagt hatte, war auch richtig. Wir redeten hin und her. Zuletzt wurde folgendes beschlossen. Meine Freunde wollten ihre Flucht aufschieben. Ich sollte in ihren Wagen übersiedeln, aus dem einige bereits geflüchtet waren, so daß ich dort unterkommen könnte. Sollte ich mich dann in den nächsten Stunden, während der Fahrt, entschließen, den Zug zu verlassen und mich ihnen anzuvertrauen, dann seien sie da und in Bereitschaft.
Ein Zug nach dem andern ging ab. Wir, die Boches, kamen offenbar erst ganz zuletzt. Keiner glaubte mehr an Rettung, alle erwogen private Fluchtpläne. Einige versuchten es, sich in andere Züge einzuschleichen. Doch nur wenigen gelang es, die Züge waren voll, überall kämpfte man um Plätze. Wehe dem Boche, der in einem solchen Zug gefaßt worden wäre.
Einigen älteren jüdischen Herren – das hörte ich später, doch es gehört hierher –, einigen älteren jüdischen Herren also war es geglückt, sich in ein verschlossenes Abteil eines abfahrbereiten Militärzuges einzustehlen. Da saßen sie, wartend auf die Abfahrt, fürchtend, sie möchten entdeckt und schimpflich ausgetrieben werden, und wirklich, es öffnete sich die Tür des Abteils. Unsern jüdischen Herren stand das Herz still. Doch eine Stimme erklang: »Schokolade gefällig, die Herren, für die lange Reise.« Es war einer von uns, der, frech und vital inmitten der allgemeinen Hoffnungslosigkeit, noch schnell ein Geschäft machen wollte.
In unserm Zug war keine Ordnung mehr. Nicht nur von uns Gefangenen, auch von den Wachsoldaten hatten sich welche davongemacht. Umschichtungen von einem Wagen zum andern waren vorgenommen worden, bisher getrennte Freunde hatten sich zusammengefunden.
Es bedurfte nur kurzen Parlamentierens, bis ich in den Wagen meiner Österreicher übersiedeln konnte. Wiewohl sich drei oder vier Insassen dieses Wagens verdrückt hatten, war er immer noch gestopft voll, an Sitzen war nicht zu denken, der Wagen war schlimmer als der, aus dem ich kam. Es waren da drei Kranke, sie hatten einen Kübel. Es war da außerdem ein dicker Mann mit einer Krücke, der immerfort jammerte, weil er gestoßen oder getreten wurde. Auch der österreichische Polyhistor war in dem Wagen, der leicht Verrückte.
Das kunstvoll aufgebaute Gepäck hatte man wieder auseinandergerissen. Denn wer zur Flucht bereit sein wollte, konnte wirklich nur das mitnehmen, was er am Leib zu tragen imstande war, und das suchte man sich jetzt heraus. Der schmutzige Boden des Wagens war voll von allerlei Zeug, man trat darauf herum, es war kein Platz. Einige rafften etliches an sich, das Kostbarste, und erkundigten sich gierig bei den bisherigen Besitzern, ob sie, wenn die Herren wirklich fliehen sollten, die Sachen in Verwahrung nehmen dürften.
Im übrigen geschah bei dieser letzten Durchmusterung des Gepäcks etwas Sonderbares, und ähnliches, hörte ich später, ereignete sich auch in andern Wagen. Während seinerzeit, beim Betreten des Zuges, die Leute erbittert und verzweifelt darum gekämpft hatten, ihr Gepäck behalten zu dürfen, gaben sie es jetzt ohne Be dauern preis. Nicht nur schonten sie ihre Sachen nicht, sie trampelten zerstörerisch darauf herum, mit Wollust.
Meine jungen Österreicher ließen sich anstecken von diesem Zerstörungstrieb. Sie suchten aus meinen Sachen heraus, was ich auf unsere allenfallsige Flucht mitnehmen wollte, warfen, wiewohl das nicht gerade nötig war, das nicht Mitzunehmende achtlos auf den Boden, traten, auch sie, darauf herum mit einer gewissen Absicht, gegen den Einspruch meines Karl. Dabei hatten sie sich bisher stets als Burschen erwiesen, die auf Ordnung und Sauberkeit bedacht waren. Auch der leichte, geschmeidige Lederband aus der schönen Dünndruckausgabe der Werke Balzacs, den ich selbst in diesen Zug mitgenommen hatte, ging jetzt verloren. Beschmutzt auf dem schmutzigen Boden des Wagens lag er, getreten von schweren, schmutzigen Schuhen, und als mein Karl ihn entrüstet aufhob, sah der Band so
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