Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Sie das vielleicht jetzt für uns spezifizieren?“, fragte Gutenberg.
Die Erinnerung an die Tage und Nächte in der Spalte kam wieder hoch, und er wollte sie zurückdrängen. Sie war verschwommen und lückenhaft, ausgefranst wie ein altes Seil, kaum greifbar, wie der Zigarrenrauch, der die Wohnstube füllte. Dennoch waren die Bilder noch stark genug, um ihn zum Zittern zu bringen.
Wagner bemerkte es und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Ganz ruhig“, sagte er. „Sie müssen nicht darüber sprechen, wenn Sie es nicht möchten. Verzeihen Sie unsere Unhöflichkeit. Ich hätte merken sollen, dass Sie Ihre Erlebnisse erst verarbeiten müssen. Ich war lange genug Polizist, um das zu wissen.“
Erik presste sich die Hände gegen die Schläfen. Er versuchte sich zu konzentrieren und überlegte, was er ihnen erzählen konnte und was er lieber für sich behalten sollte. Nach einem Schweigen, das sich von Sekunden zu Minuten dehnte, entschied er, ihnen alles zu erzählen ; zumindest alles, was sie nicht an seiner geistigen Gesundheit würde zweifeln lassen. Er würde kein Wort über die Stimmen verlieren. „Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.“
Gutenberg lehnte sich zurück. „Lassen Sie sich Zeit.“
Und dann sprudelten seine Erlebnisse plötzlich aus Erik heraus, als würde ein Damm brechen. Während er sprach, wurde ihm selbst zum ersten Mal bewusst, welch unglaubliche Dinge er innerhalb so kurzer Zeit in Thannsüß erlebt hatte, wie viele Zweifel in ihm keimten und wie sehr er sich zurück nach München und zu seiner Frau Marie sehnte. Und zum ersten Mal wurde ihm klar, welch tiefe, verzehrende Angst in ihm gärte. Er erzählte ihnen von Benedikts Fest und der Opferung des Lamms, von Cornelius Piel, dessen Ausweispapiere und Briefe er im Keller gefunden hatte, von der Pistole im Gästehaus, von der alten Mühle und dem Knochen, von Mathildas Tod und den schrecklichen Bildern, die ihn seitdem verfolgten, und schließlich von seinem Sturz in den Gletscher. Er erzählte ihnen von dem Auftrag, den Obermeier ihm erteilt hatte. Er erzählte ihnen alles.
Nachdem er geendet hatte, war das Prasseln der Flammen im Kamin für einige Minuten das einzige Geräusch in der Wohnstube. Karl Wagner gewann als erster seine Fassung zurück. „Sie sind ja völlig fertig, Mann“, sagte er leise. „Hier, trinken Sie noch einen Schluck, das wird Ihnen gut tun.“ Er schenkte Weinbrand in Eriks Glas.
„Cornelius Piel.“ Gutenberg sog nachdenklich an seiner Zigarre und ließ den Rauch aus den Mundwinkeln entweichen. „Sagt dir der Name etwas, Karl?“
Wagner reichte Erik das Glas. „Nein. Nie gehört. Haben Sie den Pass dabei?“
„Nein. Ich habe ihn zurückgelegt, aus Angst, sein Verschwinden könnte bemerkt werden.“
„Einen der Briefe vielleicht? Sie sagten, die waren alle an dieselbe Regensburger Adresse gerichtet.“
„Ich habe auch die Briefe zurückgelegt. Aber ich habe die Adresse.“ Er zog ein zerknittertes Stück Papier aus der Hosentasche. „Ich habe sie mir gemerkt und später notiert.“
„Sehr gut“, sagte Gutenberg. „Womöglich lässt sich auf diesem Wege mehr über Ihren Herrn Piel herausfinden. Und vor allem darüber, was er in Thannsüß wollte. Geben Sie mir den Zettel.“
Erik streckte die Hand aus. Dann zögerte er. Er beobachtete Doktor Gutenberg, dessen Augen den Notizzettel fixierten. Erik zog seine Hand zurück, und Gutenberg blickte auf. Als er Eriks Gesichtsausdruck sah, lächelte er. „Keine Angst, Herr Strauss. Ich bin auf Ihrer Seite.“
„Alle sind auf meiner Seite. Zumindest wollen sie mich das glauben machen.“ Erik atmete tief durch. Dann hielt er Gutenberg den Zettel hin. „Hier. Nehmen Sie. Versuchen Sie, etwas über ihn herauszufinden. Ich gebe Ihnen noch Obermeiers Nummer. Vielleicht erzählt er Ihnen mehr als mir.“
Gutenberg nahm den Zettel entgegen und studierte die Adresse. „Das werde ich. Eines noch. Sie erzählten, Sie hätten einen Knochen gefunden. Haben Sie ihn dabei?“
Erik schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. „Ja.“
„Geben Sie ihn mir.“
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“
„Aha. Warum haben Sie ihn dann mitgebracht?“
Erik musterte Gutenberg. Er konnte keine Falschheit in seinen Augen entdecken. Er fischte den kleinen, weißen Knochen mit den Fingern aus seiner Tasche. Dann legte er ihn vorsichtig in Doktor Gutenbergs ausgestreckte Hand. Gutenberg stand auf und betrachtete den Knochen im Schein der elektrischen
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