Der Teufel von Herrenhausen
Minuten später den
Bürgersteig der stark befahrenen Neuhäuser Straße. Der Himmel hatte sich
zugezogen, es würde ein Gewitter geben. Sie stiegen in Bergheims Wagen.
Charlotte hatte
immer Mühe, die Beklemmung abzuschütteln, die sie überfiel, wenn sie die
Verwandten von Mordopfern befragte.
»Wie ich das
hasse«, sagte sie.
»Und ich erst«,
sagte Bergheim. »Lass uns fahren.«
»Vielleicht
sollten wir uns noch den Dom angucken, wenn wir schon mal hier sind?«, sagte
Charlotte.
»Seit wann
interessierst du dich denn für Kirchen?«, fragte Bergheim verdutzt.
Charlotte zuckte
mit den Schultern. »Eigentlich schon immer. Du weißt doch, ich bin katholisch
erzogen worden, obwohl ich im protestantischen Bielefeld aufgewachsen bin. Mein
Vater hat mich und meine Schwester öfter nach Paderborn zum Dom geschleift. Den
sollte man sich schon mal angeguckt haben als Katholik, hat er gesagt.«
»Wusste gar nicht,
dass dein Vater so religiös ist«, sagte Bergheim und fuhr über das Westerntor
Richtung Bahnhof.
»War er auch
nicht, aber alte Gemäuer haben ihn echt fasziniert.«
»Also, mich
faszinieren sie nicht«, sagte Bergheim.
»Du bist ein
Banause. Hier gibt es sogar eine Kaiserpfalz, weil Karl der Fünfte – oder sonst
ein Karl – hier haltgemacht hat. Glaub ich jedenfalls.«
»Ach ja?«, grinste
Bergheim. »Wohl, weil er den Dom so schön fand.«
»Weiß ich doch
nicht«, sagte Charlotte. »Weiß nicht mal, ob der damals schon stand.«
Wenig später
schlichen sie auf der A 33 Richtung Bielefeld. Es hatte begonnen zu regnen, und
jetzt goss es so heftig, dass die Scheibenwischer überfordert waren. Nach gut
fünf Minuten hörte der Schauer so plötzlich auf, wie er angefangen hatte.
Es war still im
Auto, die beiden Ermittler hingen ihren Gedanken nach.
»Jetzt sag mir,
was du von dieser Frau hältst«, sagte Charlotte dann.
»Was soll ich von
ihr halten? Sie wirkt sehr jung und verletzlich.«
»Den Eindruck
hatte ich auch«, sagte Charlotte. »Und sie weiß erstaunlich wenig vom Leben
ihrer Mutter.«
Bergheim nickte
nachdenklich. »Wer weiß, wahrscheinlich wollte sie vieles gar nicht wissen.
Wenn ihre Mutter Alkoholikerin war, hatte sie bestimmt Bekanntschaften aus
diesen Kreisen. Vielleicht hat sie einfach jemand im Suff erwürgt.«
»Glaub ich nicht.«
Charlotte zupfte gedankenverloren an ihrer Unterlippe. »Im Suff hätte sie
keiner so hingesetzt.«
»Da ist was dran«,
sagte Bergheim. »Vielleicht sind wir schlauer, wenn wir mit ihrem Therapeuten
gesprochen haben.«
In der Abteilung
für Suchtkranke der von Bodelschwinghschen Stiftungen in Bielefeld-Bethel
führte sie Herr Dr. Leineweber, der ehemalige Therapeut von Jutta Frieder, in
ein enges, dunkles, aber peinlich sauberes Büro. Ein Rollo vor dem viel zu
kleinen Fenster verhinderte, dass Tageslicht in den Raum fiel, dem jede
persönliche Note fehlte.
Bergheim und
Charlotte setzten sich auf zwei unbequeme Stühle und warteten, bis
Dr. Leineweber vor seinem aufgeräumten Schreibtisch Platz genommen hatte. Die
Erscheinung des Therapeuten passte haargenau zum Interieur seines Büros. Er war
blass, klein und roch nach Seife.
Kopfschüttelnd
nahm er seine Brille ab und fuhr sich über die Augen. »Es ist ein Jammer, sie
hatte sich so gut gefangen. Ich hatte ein sehr gutes Gefühl bei ihr.«
»Sie haben also
keine Ahnung, warum Frau Frieder Ihre Einrichtung so plötzlich verlassen hat?«,
fragte Charlotte.
»Sie hat gesagt,
sie wollte ihre Tochter in Paderborn besuchen. Und als sie dann am letzten
Montag nicht wiederaufgetaucht ist, habe ich dort angerufen und erfahren, dass
sie überhaupt nicht dort gewesen ist.«
»Und was sie in
Hannover wollte, wissen Sie nicht?«, fragte Charlotte.
Ȇberhaupt nicht,
sie hat in unseren Werkstätten gearbeitet, hauptsächlich in der Gärtnerei. Sie
hat sich dort einiges an Wissen angeeignet. Ich war sicher, dass sie mit ihrem
Leben hier zufrieden war, aber jetzt …« Dr. Leineweber seufzte. »Manchmal ist
mein Beruf mehr als frustrierend – die Erfolge, die man erzielt, gleichen das
nicht immer aus.«
»Was können Sie
sonst über Frau Frieder sagen? Warum, glauben Sie, hat sie getrunken?«
»Sie war schwer
traumatisiert durch den plötzlichen Unfalltod ihrer Eltern vor – na, das muss
mehr als zehn Jahre her sein.«
»Wie war das
Verhältnis zu ihrer Tochter?«, wollte Charlotte wissen.
»Ziemlich
distanziert«, erwiderte Dr. Leineweber. »Ich glaube, Frau Frieder hat sich
einfach
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