Der Teufel von New York
erreichen könnte, aber wer wusste das schon? Angesichts all der magischen Entdeckungen, die man bereits gemacht hatte, wer wusste da schon, was wohl noch in der Welt still darauf wartete, dass wir es ganz verstanden?
»Gelegentlich wünschte ich, meine eigene Gesundheit wäre nicht so ... anfällig«, schloss er und deutete auf sein vom rheumatischen Fieber angegriffenes Herz. »Aber wer weiß, wäre ich ein gesunder Mann, vielleicht wäre ich nicht mit demselben Eifer meiner Berufung gefolgt. Und wenn es um das Wohlergehen vonKindern geht, ist jedes Ungemach nur ein kleiner Preis. Und jetzt, Mr. Wilde, erzählen Sie.« Er hielt inne und strich in dieser seltsamen Geste der Selbstberuhigung mit der flachen Hand über den von Seide bedeckten Brustkorb. »Hat die Polizei tatsächlich im Norden der Stadt ... hat sie da ...«
»Ja«, bestätigte ich. »Neunzehn.«
Die Tatsache schien ihn geradezu körperlich anzugreifen, ein Gefühl, das ich in jeder Hinsicht respektierte. Dr. Palsgrave wedelte mit einem Fläschchen Riechsalz unter seiner Nase herum. »Abscheulich. Ungeheuerlich. Ich muss auf der Stelle die Leichen sehen, vielleicht kann ich Ihnen helfen. Rühr das nicht an, du närrisches Kind, das ist Gift!«, fuhr er Bird an, die daraufhin geschwind ein kleine gläserne Karaffe an ihren Platz zurückstellte.
Sobald das Gift außerhalb ihrer Reichweite war, beruhigte er sich augenblicklich. Er entschuldigte sich bei Bird mit einem warmen Lächeln, sein Ärger war verflogen, als habe es ihn nie gegeben, und in dem Augenblick konnte ich verstehen, warum sie ihn so gern mochte. Die Schroffheit war nur aufgesetzt, das Wohlergehen der Kinder seine wahre Obsession. Ich mochte ihn auch.
»Unbedingt. Doch nur unter höchster Geheimhaltung. Selbst die anderen Polizisten dürfen nichts erfahren. Ich bin der Einzige, der in dem Fall ermittelt. Und nun zu dem Brief.«
»Er hat mir schier den Garaus gemacht«, murmelte er, und das metallischblaue Taschentuch kam wieder zum Einsatz. »Nehmen Sie ihn, ich will ihn nie wieder sehen.«
Ich blickte zu Bird hinüber, die immer noch das Chemielabor untersuchte, jetzt aber die Hände brav hinter dem Rücken verschränkt hatte. Dann setzte ich mich und las das Abstruseste, das mir je in die Finger gekommen ist.
Ich sehe es. Und nichts sonst.
Es war einmal ein Mann, der tat das Werk seines Gottes, und als dieser Mann sah, was seine Arbeit sein sollte, fühlte erScham, obwohl er wusste, es war sein Joch, und er versteckte sich und weinte bei dem Gedanken, der Engel des Todes zu werden.
Ich sehe es vor mir, und nichts sonst, sehe es immer und immer wieder, Amen, nur diesen Leib, so klein, so gebrochen. So verwüstet. Nichts sonst.
So klein, es ist ein Gräuel, nein, für einen Augenblick habe ich es fortscheuchen können, doch jetzt ist es wieder da, plötzlich wieder da, Gott helfe mir, Gott rette uns, wenn ich könnte, ich würde mir die Augen ausreißen, und sähe doch immer noch diesen Leib in meine Augenhöhlen gemalt. Und Sie, wenn Sie diese Kleinen sehen, die Augen zum Weißen verdreht, so still wie Knochen, was können Sie tun? Wie können Sie es ertragen? Ich sehe sie vor mir, und sonst nichts. Mit ihren Augen, so tot wie das Nichts. Wie kalte Sterne. Mit Raureif bedeckte Fischschuppen.
Ich bin ein gebrochener Kinnbacken.
Bringen Sie Ihre Arbeit zu Ende und lassen Sie das hier aufhören, sie haben keine Augen mehr zu sehen, und sie wollen, dass Sie Ihre Arbeit beenden, genau wie ich, sofort. Machen Sie wieder ganz, was zerbrochen ist. Ich muss ein weiteres zerbrechen, und ich werde es tun, damit alles aufhört. Nicht näher, lassen Sie mich nicht näher.
»Er ist nicht unterschrieben«, sagte ich und räusperte mich.
Es war der jämmerliche Versuch einer klugen Bemerkung. Aber meine Augen wollten nicht mehr recht in meinen Kopf passen. Palsgrave schnaubte höhnisch, und das zu Recht, aber er endete mit einem Schauder.
Ich starrte das Ding an und versuchte, irgendwie schlau daraus zu werden. Den letzten Brief hatte ich in Vals Gegenwart gelesen, heute Morgen und viel zu schnell, den ersten etwas langsamer bei mir in der Elizabeth Street. Befänden sie sich noch in meinem Besitz, könnte ich versuchen, die Papiere zu vergleichen, die Handschrift vielleicht, die Farbe der Tinte. Die darin zum Ausdruckgebrachten Gefühle schienen einander jedenfalls stark zu ähneln, auch wenn der Irrsinn in diesem neuen Brief so ganz anders zutage trat. Den ersten Brief konnte ich mir
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