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Der Teufel von New York

Der Teufel von New York

Titel: Der Teufel von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lyndsay Faye
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hin und würde nicht rechtzeitig dort sein. Was für eine erstrebenswerte kleine Katastrophe, dachte ich bei mir. Ein richtig nettes Missgeschick. Es würde gleich geschehen, wäre schnell vorüber und schon sehr bald vergessen. Wir brauchten mehr Probleme dieser Art. Ein angebranntes Abendessen oder einen Schnupfen, wenn es gerade gar nicht passt. Ich wünschte mir sehnlich, mit der jungen Frau an meiner Seite zahllose kleine, erträgliche Sorgen aushalten zu müssen. Viel mehr brauchte ich nicht. Denn hätte ich Geld genug, sie zu ernähren und sie zu kleiden, wie es ihr gefiel, hätte ich selbst mit ein paar Brosamen und ihren kunstvoll wendungsreichen Bemerkungen genug zum Leben.
    Aber ich besaß nichts, außer einem Sternabzeichen mit einer krummen Spitze. Und ich musste in die Tombs zurück. Ich konnte nicht einmal abwarten, bis sie etwas zu mir sagte.
    »So denke ich darüber«, sagte ich schließlich. »Und bevor ich gehe, wüsste ich gern, was Sie darüber denken.«
    »Meinen Sie, was ich jetzt darüber denke oder was ich dachte, bevor Sie kamen?«
    »Ganz wie Sie wünschen.«
    Ihr Lächeln war ein wenig zittrig, eine Porzellantasse mit einem hauchzarten Riss. »Denken Sie manchmal an London, Mr. Wilde?«
    Als ich London hörte, wusste ich, dass sie ihre Mutter vermisste. Genau so, wie ihre Mutter London vermisst hatte, nehme ich an. Thomas Underhill hatte seine zukünftige Frau bei einer Mission der Abolitionisten in England kennengelernt. Dort waren ihnen schreckliche Dinge widerfahren, glaube ich. So schrecklich, dass sie für immer fortwollten. Und die Rückkehr in die Staaten muss ihnen wie ein Scheitern erschienen sein. Wenigstens erlebte Olivia Underhill noch von dieser Seite des Ozeans aus mit, wie im gesamten britischen Empire die Sklaverei abgeschafft wurde. Ich war damals fünfzehn Jahre alt, und in jeder Zeitung stand es groß auf der Titelseite. New York ist ein freier Staat, gewiss, doch Gott allein weiß, ob wir je die völlige Abschaffung der Sklaverei in Amerika erleben werden.
    »Meinen Sie speziell London, oder ob ich an ... irgendeinen Ort fern von hier denke?«
    Mercy kicherte, völlig lautlos. »Ich denke an London, wissen Sie. Ich stelle mir vor, wie ich in einer Mansarde mit Butzenscheiben mein Buch schreibe, nicht hier in einer Ecke meines Zimmers, wenn ich gerade mal eine halbe Stunde freie Zeit habe. Und ich stelle mir vor, wie ich Seite um Seite fülle und mir danach all die Dinge, die ich je gefühlt habe, ganz klar erscheinen werden. Deshalb möchte ich gern nach London gehen, sobald es mir möglich ist. An manchen Tagen, etwa an diesem Nachmittag, hätte ich gern eine bessere ... eine bessere Landkarte meiner Gefühle, damit ich deren Grenzen kenne.«
    »Das wäre eine prima Sache«, stimmte ich zu. »Ich dachte, Sie hätten bereits zwanzig Kapitel geschrieben.«
    »Zweiundzwanzig sind es jetzt, obwohl es sehr schwer ist, hier zu schreiben, da ich nicht besonders viel Privatsphäre habe. Aber verstehen Sie, was ich sagen will? Sind Bücher so etwas wie Kartographie, Mr. Wilde?«
    »Wenn man sie liest oder wenn man sie schreibt?«
    »Ist das so wichtig?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Halten Sie mich für ein bisschen verrückt?«
    »Nein, ich habe immer gewusst, dass Sie so fühlen. Ich wusste nur nicht, dass das Landkartenstudieren in London stattfinden sollte.«
    Mercy schloss die Augen. Ich hatte sie noch nie so gesehen, müde und tapfer und aufgelöst, und dieser Anblick nahm ein weiteres Stück meiner Seele gefangen. Welches, könnte ich nicht sagen, denn ich hatte geglaubt, es gehörte ihr schon alles.
    »Ich habe mit Ihrem Vater gesprochen«, sagte ich behutsam, »und zwar über Ihre Besuche bei den Katholiken.«
    Wieder flogen ihre Augen auf, sie schnappte kurz nach Luft.
    »Nein, nein, ich habe nichts gesagt. Und ich wollte Sie auch nicht erschrecken, aber ist es denn richtig, wenn er nicht weiß, dass Sie die Kranken pflegen? Ist das fair?«
    Mercy presste die Knöchel einer Hand an ihre Lippen, dann schüttelte sie heftig den Kopf. »Es ist überhaupt nicht fair. Niemandem gegenüber – weder mir gegenüber noch gegenüber Papa oder den Iren, die Hilfe brauchen. Ich kann die Menschen nicht so ... so kategorisch sehen wie er. Aber wenn er wüsste, wo ich hingehe, wäre er sehr unglücklich, und mit gutem Grund. Er macht sich große Sorgen um mich. Ich danke Ihnen, dass Sie nichts gesagt haben. Das werden Sie doch auch in Zukunft nicht?«
    »Nein. Und seien Sie einer

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