Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
Rinderbraten ab.
Royce trank von seinem Wein, und Hadrian übernahm das Erzählen. »Wir sind die Außenseite des Ostturms hinaufgeklettert, oder vielmehr hat Royce es getan und mir dann ein Seil heruntergelassen. Der Ostturm war nicht ganz so hoch wie der Turm, in den wir gelangen mussten, aber am nächsten daran gelegen. Wir haben mit Masons Pfeilen ein Verbindungsseil hinübergeschossen und uns dann an Händen und Kniekehlen hängend langsam das Seil entlanggehangelt.«
»Aber der Turm hat doch gar keine Fenster«, wandte Albert ein.
»Wer hat denn was von Fenstern gesagt?«, mischte sich Royce wieder ein. »Die Pfeile haben sich im Dach des anderen Turms verankert.«
»Klar, ich sag ja, das war Qualitätsarbeit«, sagte Mason stolz.
»Gut, so kamt ihr auf den Turm, aber wie seid ihr reingekommen? Durch den Kamin?«, forschte Albert weiter.
»Nein, der war zu eng, und außerdem brannte da letzte Nacht ein Feuer«, sagte Hadrian. »Also haben wir das zweite von Masons Werkzeugen benutzt: eine kleine Säge, und damit ein Stück Dach herausgesägt, schön abgeschrägt natürlich, damit es nicht nach innen fallen konnte. Im Großen und Ganzen lief alles ziemlich nach Plan, bis Archibald auf die Idee kam, sein Arbeitszimmer aufzusuchen. Also haben wir abgewartet, in der Hoffnung, dass er irgendwann auch wieder gehen würde.«
»Wir hätten einfach reinschlüpfen, ihm die Kehle durchschneiden und uns die Briefe schnappen können«, murrte Royce.
»Aber dafür wurden wir nicht bezahlt«, rief ihm Hadrian in Erinnerung. Royce verdrehte die Augen. Hadrian ignorierte es und sprach weiter: »Wir haben also dagelegen und gewartet, und der Wind dort auf dem Turmdach war bitterkalt. Der Mistkerl hat bestimmt zwei Stunden im Turmzimmer gesessen.«
»Armer Kleiner«, schnurrte Esmeralda und stupste ihn mit der Nase wie eine Katze.
»Das Gute war, dass er die Briefe herausgeholt und angeschaut hat, während wir ihn durch die Sägeritzen beobachteten, also wussten wir genau, wo der Panzerschrank war. Dann kam plötzlich eine Kutsche in den Hof gefahren, und ihr erratet nie, wer das war!«
»Der Markgraf kam, während ihr auf dem Dach wart?«, fragte Albert, den Mund voller Braten.
»Ja – damit wurde unser Zeitplan ganz schön eng. Archibald ist also hinuntergegangen, um den Markgrafen zu empfangen, und da haben wir zugeschlagen.«
»Das heißt also«, sagte Esmeralda, »ihr habt das Dachstück rausgenommen wie den Deckel von einem Kürbis?«
»Genau. Ich habe Royce ins Arbeitszimmer hinuntergelassen, er hat den Panzerschrank geknackt und die Briefe gegen die Attrappen ausgetauscht. Dann habe ich ihn wieder hochgezogen. In dem Moment, als wir gerade das Dachstück wieder einsetzten, kamen Archibald und Victor herein. Wir haben uns die ganze Zeit über nicht gerührt, damit sie uns nicht hörten. Das Unglaubliche war, dass Archibald dem Markgrafen die Briefe gleich an Ort und Stelle präsentiert hat. Ich muss sagen, es war sehr erheiternd, seine Reaktion mitzubekommen, als er die leeren Blätter vorfand. Da wurde es dann plötzlich ziemlich laut im Arbeitszimmer, also haben wir die Gunst der Stunde genutzt, um uns wieder in den Schlosshof abzuseilen.«
»Was für eine Geschichte! Ich habe Alenda zwar noch erklärt, dass bei einem Auftrag manchmal unvorhergesehene Dinge dazwischenkommen können, aber ich hatte ja keine Ahnung, dass es wirklich so war. Wir hätten eine Gefahrenzulage berechnen sollen«, fiel Albert ein.
»Ist mir auch durch den Kopf gegangen«, sagte Royce. »Aber Ihr kennt ja Hadrian. Trotzdem, dieses Unternehmen hat allen Beteiligten ein hübsches Sümmchen eingebracht.«
»Moment, ihr habt immer noch nicht erklärt, wie ihr das Seil vom Turm runtergekriegt habt, wenn doch meine Ausklinkvorrichtungen nicht funktioniert haben.«
Royce stöhnte. »Fragt nicht.«
»Warum nicht?« Der Schmied sah vom einen zum anderen. »Ist es geheim?«
»Sie wollen es wissen, Royce«, sagte Hadrian mit einem breiten Grinsen.
Royce sah unwirsch drein. »Er hat es runtergeschossen.«
»Er hat was?«, fragte Albert und setzte sich so jäh auf, dass seine Füße auf den Boden schlugen.
»Hadrian hat das Seil mit einem Pfeil an der Dachkante durchtrennt.«
»Aber das ist doch unmöglich«, behauptete Albert. »Kein Mensch trifft ein Seil auf – was mag das sein? – zweihundert Fuß, noch dazu in völliger Dunkelheit!«
»Der Mond war da«, korrigierte ihn Royce. »Wir wollen es nicht auch noch übertreiben.
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