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Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)

Titel: Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Gemüse.
    Meng schenkte ihm eine Tasse Tee ein. »Ich habe heute Abend einen Park gesehen, in dem ein Junge und ein alter Mann einen Drachen haben steigen lassen«, erzählte sie mit leiser Stimme. »Als ich noch klein war, ist mein Onkel jeden Frühling mit mir in einen solchen Park gegangen. Wir sind immer ganz früh aufgebrochen, weil wir mehrere Busse nehmen mussten. Ich weiß noch, wie wir in den letzten Bus gestiegen sind, der uns letztendlich zum Park gebracht hat, und dass die meisten anderen Fahrgäste Kinder mit Drachen waren. Die Drachenbrigade hat mein Onkel sie genannt. Ich dachte, das würde bedeuten, wir müssten alle Soldaten werden. Aber ich wollte keine Soldatin sein. Einmal habe ich in dem Park einen Soldaten mit einem Drachen gesehen, und da bin ich weggelaufen und habe mich versteckt, weil ich dachte, er wolle mich holen.«
    Shan merkte, dass er aufgehört hatte zu essen.
    »Was ist denn?«, fragte Meng.
    »Ich …« Shan rang nach Worten. Er starrte sein Essen an. »Ich weiß nicht, wie man das macht. Es tut mir leid.«
    »Das? Sie wissen nicht, wie man isst?«
    »Ich meine Sie und mich, hier.«
    »Wenn ich mich recht entsinne, haben wir schon in mehr als einem Teehaus zusammengesessen.«
    »Aber nicht so. Nicht wie ein Mann und eine Frau, die sich unterhalten.«
    Mengs Miene verhärtete sich. »Soll ich gehen?«, fragte sie, kaum lauter als ein Flüstern.
    »Nein«, antwortete Shan zu schnell. »Bitte verzeihen Sie. Ich habe zu viel getan. Ich habe zu viel gesehen.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Im Gulag lernt man, gewisse Bereiche des Herzens vernarben zu lassen.«
    Meng blieb lange stumm, und nun war sie diejenige, die ihr Essen anstarrte. Sie biss sich auf die Lippe. »Dann müssen wir eben eine Weile üben«, sagte sie schließlich.
    Die Schwermut in ihrem Blick raubte Shan fast den Atem.
    Schweigend aßen sie weiter.
    »Als Junge hatte ich zwei Kamele«, hörte er sich mit merkwürdig ausgetrockneter Stimme sagen. Er trank etwas Tee und versuchte es erneut. »Kleine hölzerne Kamele. Sie waren mein Ein und Alles. Mein Onkel war früher mal Kaufmann in Peking gewesen und hatte sie mir zu Neujahr geschenkt. Wir haben oft Kerzen angezündet, und dann hat er bis tief in die Nacht erzählt, wie Peking zu seiner Zeit gewesen war. Im Winter hat es dort lange Kamel-Karawanen gegeben, die sich durch die Straßen geschlängelt und riesige Körbe voller Kohle geschleppt haben. Manchmal ging er vor die Tür, und die Gasse, in der er wohnte, war vollständig von Kamelen blockiert,die darauf warteten, dass jemand sie von ihren Lasten befreien würde. Die Führer waren alle Mongolen, und in jenem Moment kam es ihm so vor, sagte er, als wären die großen Khane, die die Stadt einst erbaut hatten, nie verschwunden. Er rechnete halb damit, an der nächsten Ecke Marco Polo zu begegnen. Ich habe diese Geschichten geliebt, und ich hatte die Kamele sogar dann noch bei mir, als wir zur Umerziehung in die Kommunen geschickt wurden. Meine Mutter sagte, ich solle mein zweites Paar Schuhe mitnehmen, aber ich habe stattdessen meine Kamele eingepackt.«
    Die Worte gingen ihnen nun leicht über die Lippen, und sie redeten beide über ihre Kindheit, die Schulzeit, die Besuche bei den heiligen Bergen im Osten und über alles Mögliche andere, nur nicht über den Ort, an dem sie sich befanden. Es war fast Mitternacht, als Meng das leere Geschirr abräumte und zurück in ihr Zimmer brachte. Shan ging den Flur hinunter zum Waschraum, zog sich dann aus, legte sich unter seine Decke und beobachtete den Mond durch das Fenster.
    Sie schlich sich so leise ins Zimmer, dass er sie erst bemerkte, als sie drei Meter vor seinem Bett in den Mondschein trat. Sie trug nur ein ärmelloses Unterhemd.
    »Was ist?«, fragte er und zog sich die Decke über die nackte Brust.
    Sie zog derweil ihr Unterhemd aus. »Ich bin nicht so alt, Shan«, sagte sie und ließ das Hemd zu Boden fallen.
    »Sie … du solltest lieber gehen.« Er bekam die Worte kaum heraus.
    »Hast du auch nur die geringste Vorstellung, Genosse, wie viele Jahre vergangen sind, in denen ich nicht einen Mann getroffen habe, den ich genug respektiere?« Sie kam einen Schritt näher.
    »Aber doch nicht ich«, flüsterte Shan. »Ich bin so viel älter.«
    »So alt bist du gar nicht.«
    »Aber ich fühle mich alt«, sagte er. »Das ist aus meinem Leben verschwunden.«
    »Vorhin hast du behauptet, wir könnten uns nicht wie ein Mann und eine Frau unterhalten. Dann haben wir

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