Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
murmelte sie. »Danke.« Dann sah sie nach unten und grinste. Shan hielt immer noch ihre Hand. Er wurde rot und ließ sie los.
Sie setzten sich wieder auf die Bank. »Wir brauchen uns keinen Zutritt zu verschaffen«, sagte Meng. »Es ist doch klar, was die machen.«
»Sie indoktrinieren widerspenstige Mönche.« Die Worte waren wie Säure auf Shans Zunge.
»Sie führen diejenigen, die vom stets korrekten Pfad des Sozialismus abgekommen sind, zurück auf den rechten Weg.«
Shan hätte diese Äußerung abscheulich gefunden, wäre da nicht Mengs bitterer Tonfall gewesen.
Er sah vier Männer das Geschäft verlassen, zwei Chinesen und zwei ältere Tibeter in Mönchsgewändern. »Es geht hier nicht bloß um politische Gleichschaltung«, sagte er. »Dafür sind die Lager zuständig. Das hier ist anders. Hier werden die Leute besonders geschult.« Zwei Limousinen fuhren vor und setzten ein halbes Dutzend Chinesen an der Tür des Ladens ab.
»Es ist wie ein Privatclub«, stellte Meng fest. Noch während sie sprach, kamen die vier Männer, die gerade das Institut verlassen hatten, an ihnen vorbei. Shan keuchte überrascht auf und machte sich sofort an die Verfolgung. Die beiden Tibeter trugen lockere Gürtel über ihren Gewändern. An jedem der Gürtel hingen drei Gegenstände, als wären sie Bestandteile einer Uniform. Eine Gebetskette mit roten Perlen, ein kleiner verzierter Federkasten und ein bronzenes trapezförmiges Feuereisen, genau wie das Exemplar, mit dem man Lungs Sohn ermordet hatte.
***
Es war seit einer Stunde dunkel, als Shan zu der Pension zurückkehrte. Er hatte auf das Abendessen verzichtet und Mengallein gelassen, um die Schreine der Stadt nach Dakpo abzusuchen. Langsam stieg er nun die hölzerne Treppe hinauf und war weniger aufgrund der körperlichen Anstrengung als aus Verzweiflung müde. Der Mönch könne sich auf einer Pilgerreise befinden, hatte Meng gemutmaßt. Dann wäre er nicht so überhastet aufgebrochen und auch nicht so kurz vor Vollmond, wenn er zurück sein musste, hatte Shan erklärt. Dakpo war ohne Passierschein unterwegs. Womöglich hatte man ihn aufgegriffen, und er steckte inzwischen als irgendeine namenlose Nummer in einer fernen Strafanstalt. Bis zum Vollmond blieben nur noch wenige Tage. Shan hielt inne, zog einen Zettel aus der Tasche und studierte die Daten, die Lung Ma von Jamyang erhalten hatte. Das erste damals noch offene Datum war mittlerweile verstrichen; an dem Tag hatte im Auftrag der Mönche ein Testlauf für den Transport nach Nepal stattgefunden. Das letzte Datum war der Tag des Vollmonds.
Shan wusch sich und versteckte Yuan Yis Abzeichen unten in seinem Rucksack. Dann legte er sich aufs Bett, konnte aber nicht einschlafen. Also stand er auf, öffnete das Fenster und lauschte den Geräuschen der Stadt. In einem knappen Kilometer Entfernung rumpelten Lastwagen über die Schnellstraße. Hunde bellten. In einer nahen Gasse kreischte vergnügt ein Kind. Jemand warf Flaschen in eine Mülltonne. Es roch nach gebratenen Zwiebeln und Reis. Shan hatte plötzlich einen Bärenhunger.
»Ich habe uns das Abendessen einpacken lassen.«
Meng stand in der Türöffnung, die ihre beiden Zimmer verband, und hatte zwei Blechdosen in der Hand. Sie reichte Shan die noch warmen Behälter, verschwand wieder in ihrem Zimmer und kehrte mit einem weiteren Stuhl sowie mit einem kleinen Tisch zurück, den sie vor das Fenster stellte. Dann breitete sie ein Handtuch als provisorische Tischdecke darüber und stellte eine leere Mineralwasserflasche darauf,in der eine Kerze steckte. »Es gibt einen Spannungsabfall im Stromnetz. An der Rezeption wurden die hier verteilt.«
»Sie waren fleißig«, sagte Shan unbeholfen, während Meng die Kerze mit einem Streichholz entzündete.
»Eigentlich nicht. Ich war ein wenig einkaufen und bin dann auf meinem Bett eingeschlafen.«
Shan fiel auf, dass er sie anstarrte. Er wandte den Kopf ab. Sie war nicht die strenge Beamtin, die er gewohnt war. Ihr langes Haar hing offen auf eine rote Seidenbluse. Als sie seine Dose mit dem Abendessen öffnete und ihm zwei Essstäbchen reichte, lächelte sie verunsichert. »Heute Abend sind wir einfach zwei Reisende, die gemeinsam eine fremde Stadt erleben.«
Shan verstand nicht, was für ein Gefühl sich in ihm regte und warum er ihr hinterherschaute, als sie noch einmal in ihr Zimmer ging, um eine Thermoskanne Tee zu holen.
»Es gab keine Spur von Dakpo«, sagte er zwischen zwei Bissen der Teigtaschen mit gebratenem
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