Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
stundenlang geredet.«
»Das war etwas anderes.«
Sie stand nun direkt an seinem Bett. »Dann müssen wir eben eine Weile üben«, sagte sie und schlug die Decke zurück.
»Wir sollten wirklich nicht …« Shans Stimme erstarb. Meng machte einfach weiter. Seine Hand zitterte. Meng nahm sie und legte sie sich auf den Körper.
Danach lag sie eng an ihn geschmiegt. »Was ist aus ihnen geworden?«, fragte sie. »Aus den beiden hölzernen Kamelen.«
»Meine Mutter wurde im ersten Winter krank. Wir haben die Kamele verbrannt, um ihr einen Tee zu kochen.«
KAPITEL FÜNFZEHN
Der Tempel im vorderen Teil des Instituts zog bereits einen steten Besucherstrom an, als Shan sich am nächsten Morgen auf eine der Bodenplatten setzte. Tibeter und ein paar Chinesen auf dem Weg zur Arbeit in den Geschäften und Büros zündeten Weihrauchstäbchen an und ließen sich vor den Altären und neben einer Handvoll Mönche nieder, die schon bei Shans Ankunft dort gesessen hatte. Entlang der Wand saß ein halbes Dutzend anderer Mönche; einige von ihnen drehten tragbare Gebetsmühlen. Vor den Schreinen, die an der gegenüberliegenden Wand standen, fanden sich mehrere Tibeter in der groben Kleidung der Bauern und Hirten ein.
Shan schaute zur Tür. Beim Aufwachen hatte Meng nicht mehr neben ihm gelegen, und als er ihr dann kurz in der Eingangshalle der Pension begegnet war, hatte sie ziemlich reserviert gewirkt. Ihr einziger Gruß war ein verlegenes Lächeln gewesen, und Shan hatte erkannt, dass sie sich hinsichtlich der letzten Nacht genauso unschlüssig war wie er. Er war verblüfft, wie viel Zärtlichkeit er auf einmal empfand, hatte er doch viele Jahre fest geglaubt, er habe diese Fähigkeit ein für alle Mal eingebüßt. Doch so sehr er sich auch zu ihr hingezogen fühlte, ein Teil von ihm war gleichzeitig davon abgestoßen, was sie verkörperte. Und umgekehrt wusste er, dass er für den Kriecher in ihr ein ehemaliger Sträfling war, ein Schandmal, eine Kette um den Hals, eine Garantie dafür,dass sie niemals ihr Exil innerhalb der Öffentlichen Sicherheit verlassen könnte. Es würde für sie beide zweifellos am besten sein, die letzte Nacht als flüchtigen intimen Umweg auf den verschlungenen Pfaden ihrer beider Leben zu betrachten.
Shan blieb im Schatten und beobachtete sowohl die Mönche als auch die andächtigen Besucher. Ihm fiel auf, wie angespannt und verunsichert die Männer in den kastanienbraunen Gewändern dreinblickten. Wurden sie bestraft? Unterzog man sie einer Gehirnwäsche? Oder waren sie die Wachhunde des Tempels?
Ein alter Mann setzte sich und stimmte mit leiser, trockener Stimme ein Mantra an. Shan musste unwillkürlich an Lokesh und die Lamas denken, die sie kannten, und fand sich schon bald im Bann des Gebets gefangen.
Er konzentrierte sich dermaßen auf das Mantra, dass er die Bewegung zunächst nicht bewusst wahrnahm. Es schien sich lediglich um irgendeinen Pilger zu handeln, der ein Stück weiterging, um der nächsten Gottheit seine Ehrerbietung zu bezeigen. Doch dann stolperte der Mann, der seinen Hut tief ins Gesicht gezogen hatte und ein leises Mantra murmelte, gegen einen der sitzenden Mönche. Als er sich über den Mönch beugte, wurde aus dem Mantra eine Verwünschung, und er hieb dem Sitzenden die Faust in den Leib. Der Mönch rollte sich zur Seite und versuchte zu entkommen.
»Du Schwein! Du Mörder!«, rief der Pilger auf Tibetisch, sprang über den Mönch hinweg, um ihm den Weg zu verstellen, und prügelte dann mit beiden Händen auf ihn ein.
Der Mönch stöhnte, schützte seinen Kopf mit den Armen und stieß den Pilger zurück. Der Mann wankte wieder vorwärts und landete einen weiteren Treffer, bevor er den Mönch packte und seinen Kopf auf den Steinboden donnerte.
»Jigten!«, rief Shan, als er den Angreifer erkannte. Er sprangauf und bahnte sich einen Weg durch die erschrockene Besucherschar.
Der junge Mönch schrie vor Schmerz, wehrte sich aber nicht. »Mörder!«, rief Jigten erneut und fing an, ihn zu treten. Als er sich bückte, um dem Mönch ins Gesicht zu schlagen, löste Shan sich aus der Menge und sprang vor, um ihm in den Arm zu fallen.
Doch andere waren schneller. Vier Mönche zogen die Männer auseinander, und im nächsten Moment tauchten uniformierte Kriecher auf. Der Größte von ihnen trat brutal zu und schickte Jigten mit Wucht zu Boden. Während die Kriecher dem Hirten Handschellen anlegten, drehte Shan den verletzten, wimmernden Mönch um, wischte ihm mit dem Ärmel das
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