Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
gemacht hast. Es war alles so ungerecht. Aber nun siehst du überall Verderben. Ich wollte dir ein Geschenk machen, und du hast mich dafür gehasst. Als hätte ich etwas damit zu tun, was mit diesen armen Tibetern geschieht.«
Er erwiderte wortlos ihren Blick. Als sie sich abwandte, standen ihr Tränen in den Augen.
»Überprüfe die Aufzeichnungen«, sagte er. »Sprich mit den Leuten in eurer Zentrale. Die Ankunft von Major Liang muss aufgefallen sein. Es gibt bestimmt ein Quartier für hochrangige Besucher, und es wird vermerkt, wer dort zu welchem Zeitpunkt übernachtet. Falls du keine Unterlagen finden kannst, sprich mit dem Dienstpersonal.«
Sie drehte sich nicht zu ihm um. Shan wartete mehrere Minuten und machte sich dann zu Fuß auf den Rückweg.
Er hatte schon mehr als einen Kilometer zurückgelegt, als er hinter sich die Reifen auf dem Schotter hörte. Der Wagen fuhr an ihm vorbei und hielt an.
Noch bevor Mengs Füße den Boden berührten, fing sie schon an zu rufen. »Du hältst mich auch bloß für irgendeine Marionette! Du glaubst, mir sei alles egal!« Als sie sich die Uniformmütze vom Kopf riss, flogen ein paar Haarnadeln davon, so dass der Wind ihr die langen Strähnen ins Gesicht wehte. Sie schüttelte die Mütze in Shans Richtung. »Ich habe genugvon deiner verfluchten Selbstgerechtigkeit! Du glaubst, man könne die Wahrheit erst sehen, wenn man dafür gelitten hat!« Sie warf die Mütze zu Boden und trat sie in den Staub.
Ihre Worte gingen nun in Schluchzen über. »Ich bin keine Marionette, Shan Tao Yun! Ich hasse es, wie die Tibeter mich ansehen! Ich bin kein Tier! Ich bin ein Mensch! Ich bin …« Tränen rannen über ihr Gesicht. »Ich möchte nur …« Sie fing haltlos an zu weinen.
Shan hielt sich einen Finger vor die Lippen und nahm sie dann in die Arme. Sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn. Von irgendwo in den Hügeln hinter ihnen ertönte der tief hallende Ruf eines Zeremonienhorns.
***
Hinter den Bergen zeichnete sich die Morgendämmerung ab, während Shan vorsichtig den Pfad hinter Chegar gompa entlangschlich. Als er mit Dakpo hier eingetroffen war, hatte der Mönch gebeten, zu Patrul gebracht zu werden, angeblich um das gompa so spät abends nicht mehr zu stören. Erst später war Shan klar geworden, dass Dakpo sich wahrscheinlich davor fürchtete, das Kloster zu betreten. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er dem Mönch noch etwas schuldig war, und er konnte nicht vergessen, dass nur noch zwei Tage bis zum Vollmond blieben.
Der ehemalige Abt saß vor seinem schlichten Altar in der großen Scheune. Als Shan noch drei Meter entfernt war, hob der Blinde eine Hand und bedeutete ihm, er solle vortreten und sich setzen.
»Es war gut, was du für Dakpo getan hast«, sagte Patrul. »Du hast die Angewohnheit, Geschöpfe in Not zu retten.«
»Bei Dakpo, Rinpoche, bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn gerettet oder tiefer in den Schlamm gezogen habe.«
»Er ist jung, aber er hat genug gelernt, um zu wissen, dass es keine Reinheit ohne Unreinheit gibt.«
»Ich würde gern mit ihm sprechen. Ist er ins gompa zurückgekehrt?«
Der alte Lehrer schüttelte den Kopf. »Er fürchtet, was er ihm antun würde.«
Shan warf einen Blick auf die Lagerräume entlang des Korridors der Scheune und stutzte dann. »Was er dem Kloster antun würde?«
»Ich glaube, dir ist bewusst, dass die Wahrheit die schmerzhafteste aller Waffen sein kann. Die Wahrheit, mit der du ihn bewaffnet hast, würde sich verheerend auf die Mönche auswirken.«
Shan schaute zu der Buddhastatue auf dem provisorischen Altar empor. Er war hier der Blinde. Er wusste, wie sehr die Mönche des geplagten Klosters ihren Abt verehrten. Norbu war ihr Held, ihr Retter. Norbu hatte Patrul aus der Vergessenheit des Gulag wiederauferstehen lassen. Ihnen die Wahrheit zu sagen würde bedeuten, ihnen gleichzeitig mitzuteilen, dass man sie benutzt hatte, dass ihre Gemeinschaft auf einer Täuschung basierte, dass sie Marionetten der Öffentlichen Sicherheit waren.
Als er sich wieder Patrul zuwandte, lag der große zottige Mastiff neben dem alten Lama und sah Shan an. »Du wurdest zu zehn Ketten verurteilt, Rinpoche«, sagte Shan nach langem Schweigen. »Niemand, der sich gegen die Treueide ausgesprochen hat, wird vorzeitig entlassen. Trinle hat gesagt, der Grund sei deine Erblindung gewesen.«
Patrul lächelte bekümmert. »Er ist ein guter Junge. Sucht immer nach der besten Antwort, nicht unbedingt nach der wahren. Er
Weitere Kostenlose Bücher