Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
zu sein. In der Ferne wurden Sirenen laut. Eine der Gestalten mit den Ziegen kam näher, und Shan erschrak ein weiteres Mal.
»Yuan!«, rief er. Der Professor, seine Tochter und drei andere Exilanten aus Baiyun bahnten sich einen Weg durch die Menge.
»Sie sollten gehen«, sagte Shan. »Die Leute hier sind außer sich.«
»Ich habe den Ziegen eine Fahrt ins Blaue versprochen«, entgegnete Yuan mit funkelndem Blick. Shan schaute zurück zu dem Traktor, dem verbeulten alten Gemeinschaftsfahrzeug, das sonst auf dem Marktplatz von Baiyun stand, und bemerkte den Trotz in Yuans Miene. Die Stadt lag mehr als acht Kilometer entfernt. Der Professor war nicht als Reaktion auf den Tumult aufgebrochen, sondern schon vorher. »Sie haben hiervon gewusst?«
»Jigten ist gestern Abend an den Polizisten vorbeigefahren, die es aufgestellt haben. In den letzten drei Monaten hat jedesneue Schild zu einer Demonstration der Tibeter geführt. Das Tal kann weitere Unruhe wirklich nicht gebrauchen.«
»Polizisten? Keine Straßenarbeiter? Sind Sie sicher, dass er das gesagt hat?«
Yuan nickte bekräftigend, während Norbu auf einen der Anhänger stieg.
»Wir dürfen ihnen keinen Anlass geben, weitere Verhaftungen vorzunehmen«, beschwor der Abt die Tibeter. Die Polizeiwagen kamen nun in Sicht, ein Transporter der Bewaffneten Volkspolizei hinter zwei grauen Geländefahrzeugen. Der Fahrer des Lastwagens hatte angehalten. Er stieg nun aus und kletterte auf die Motorhaube. Es war einer von Lungs Männern.
Während die Aufmerksamkeit der Tibeter auf Norbu gerichtet war, schob Yuan sich weiter durch die Menge, gefolgt von seiner Tochter, die einen kleinen Eimer bei sich trug. Der Professor zog einen Pinsel aus der Tasche, tunkte ihn in den Eimer und fing an, etwas mit gelber Farbe auf die leere Rückseite des Schildes zu schreiben, wobei er immer wieder einen Zettel zurate zog, den seine Tochter ihm hinhielt. Es handelte sich um tibetische Schriftzeichen, und obwohl Yuans Hand ungeübt war, konnte man sie gut entziffern.
Shan hielt den Atem an. Ein tibetischer Junge lachte überrascht auf. Am Ende des Wortes malte Yuan nun einen Pfeil, der nach Süden zeigte.
Norbu sprang von dem Anhänger und forderte die Tibeter auf, sich hinter ihm zu versammeln, damit er sie vor den Polizisten schützen könne, die nun aus ihren Fahrzeugen stiegen. Doch erst ein Tibeter und dann noch einer trat hinter das Straßenschild und las, was Yuan geschrieben hatte. Jeder der beiden war im ersten Moment verblüfft und lachte dann. » Lha gyal lo «, rief eine Frau und lächelte Yuan zu. Shans Beunruhigung verwandelte sich in Angst, denn eine Stimme aus einem Megaphon ertönte.
»Sofern Sie keine Genehmigung für diese Versammlung haben, begehen Sie gerade eine Straftat«, sagte Liang. »Lösen Sie die Zusammenkunft sofort auf, oder Sie werden verhaftet.« Shan musterte den Major und die verunsicherten Blicke, mit denen die Polizisten ihn betrachteten. Es gab keinen offiziellen Grund, aus dem ein Sonderbevollmächtigter von außerhalb einen Routineeinsatz wie diesen leiten sollte.
Norbu war der Erste, der das Wort ergriff. »Wir sind nur Bauern auf dem Weg zur Arbeit«, rief er zurück. »Die Polizei hat nichts von uns zu befürchten. Wir erbitten lediglich Ihren Respekt als ursprüngliche Bewohner dieses Tals.«
Eine Frau neben Shan stöhnte auf. »Nein, bitte nicht«, rief sie. »Nicht unser gesegneter Abt. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie einen weiteren Abt ins Gefängnis werfen.«
Norbu sprach weiter, aber das Raunen der Tibeter, die einen Blick auf die Rückseite des Schildes warfen, übertönte ihn. Yuan trat beiseite, damit alle es lesen konnten.
Neben dem Pfeil stand Dharamsala , erst auf Tibetisch, dann auf Chinesisch. Yuan hatte die Richtung bezeichnet, in der die Hauptstadt der freien Tibeter in Indien lag.
Eine alte Tibeterin packte Yuan, der eigentlich zu Shan wollte, und umarmte ihn. Shan konnte Liangs Worte nicht verstehen, aber der Zorn in seiner Stimme war unüberhörbar. Vier Polizisten mit Schlagstöcken rückten vor. Ein tibetischer Bauer nahm Sansan beim Arm und zog sie in die Menge. Schon die Tibeter steckten in Schwierigkeiten, aber falls Liang begriff, was geschehen war, würde sein Hass sich auch auf die Exilanten richten.
Shan stieg wieder in seinen Pick-up, drehte den Zündschlüssel und trat das Gaspedal durch, so dass der alte Motor lautstark zum Leben erwachte. Dann hantierte er mit Gangschaltung und Kupplung herum und
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