Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Niederlage erlitten haben, doch nun kam er selbstgefällig und zufrieden über die Straße stolziert. Liang schien übertrieben deutlich die Tische abzusuchen. Dann nickte er Shan zu.
Shan schob seinen Stuhl zurück und dachte an Flucht, doch Liang hatte das vorausgesehen. Einer der Soldaten hatte einen Bogen zur Rückseite der Tische beschrieben und stand nun hinter Shan. Meng blieb im Hintergrund und sah ihn mit schmerzvollem Blick an.
»Genosse Shan!«, rief Liang laut und trat zu ihm an den Tisch. »Na endlich haben wir Sie gefunden! Es gibt gute Neuigkeiten! All Ihre Angaben über diesen Revisionisten Jamyang haben sich bestätigt! Ihre Belohnung wurde zur Auszahlung freigegeben!« Der Major griff unter seinen Waffenrock und brachte ein Bündel Geldscheine zum Vorschein, zusammengehalten von einem Gummiband. »Eintausend ist der geltende Satz. Ein gutes Geschäft für den Leichnam irgendeines gesetzlosen Lama.«
Liang ließ das Geld auf Shans Tisch fallen, deutete steif eineVerneigung an, machte kehrt und marschierte zurück zu seinem Wagen.
Alles war totenstill. Jede Person an jedem Tisch starrte Shan schockiert an, manche mit Hass im Blick, andere mit Abscheu. Shan war soeben öffentlich als Knochenfänger bezeichnet worden.
Alle bis auf einen Tisch leerten sich zügig. Der dünne grauhaarige Mann, der blieb, stand langsam auf, ging zu Shan und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Auch seine Tochter trat hinzu. »Kommen Sie mit uns«, sagte Yuan.
Shan erhob sich wortlos und folgte dem Professor. Seine Tochter nahm das Geld vom Tisch. Shan hatte es nicht angerührt.
»So ist Liang nun mal«, sagte Yuan, als er Shan in seiner Küche Tee einschenkte. »Die Leute in Baiyun werden das bald durchschauen. Die kennen Sie besser.«
Shan bekam kaum ein Wort über die Lippen. Liang hatte vergeblich versucht, ihn einzusperren. Von Anfang an hatten der Major und er sich belauert. Nun war Liang der entscheidende Schlag gelungen. Als Shan endlich sprach, war seine Stimme heiser. »Morgen um diese Zeit wird kein einziger Tibeter in diesem Tal mehr mit mir reden«, sagte er.
KAPITEL SIEBZEHN
Shan erwachte jäh, und sein Albtraum war so real, dass er zusammenzuckte, weil er dachte, die Berührung an seiner Schulter stamme vom Knüppel eines Lageraufsehers.
»Shan«, flüsterte Yuan und schüttelte ihn. »Sie ist hier. Ihr Wagen steht schon seit zwei Stunden draußen. Jetzt ist sie an der Tür.«
Schlaftrunken folgte er dem Professor nach vorn und steckte sich derweil das Hemd in die Hose.
Meng stand da im trüben Licht kurz vor Tagesanbruch. »Wir müssen los«, verkündete sie.
»Los?«, fragte Shan begriffsstutzig.
»Hast du allen Ernstes vergessen, welchen Tag wir heute haben? Es ist der erste Sonntag des Monats.«
Ob aus Ermüdung und Verblüffung, er wusste nicht, was er sagen sollte. Er folgte Meng zu ihrem Wagen, stieg gehorsam ein, starrte dann aus dem Fenster und kam sich irgendwie beschämt vor.
Die schlafende Stadt lag schon weit hinter ihnen, bevor er sich das erste Mal Meng zuwandte. Ihre Uniform war zerknittert. »Hast du im Auto geschlafen?«, fragte er.
»Nicht viel.«
»Du musst das nicht tun.«
»Es ist Sonntag. Ist es nicht das, was Paare sonntags tun? Einen sorgenfreien Ausflug aufs Land unternehmen?«
»Meng Limei, wirklich. Das wird kein Spaziergang.«
Wie als Antwort warf sie ihm ein Stück Papier auf den Schoß. Langsam und schmerzlich faltete er es auseinander. Es war der Brief, den er in Liangs Zelle an Ko geschrieben hatte. »Ich danke dir, dass du …«
»Du siehst furchtbar aus!«, fiel sie ihm ins Wort. »Schlaf noch ein wenig.«
Er steckte sich den Brief unter das Hemd, lehnte den Kopf an die Scheibe und betrachtete den Himmel. Die Sterne verloschen, weil nun endgültig die Dämmerung anbrach. Er sah zu, wie die Schatten hinter die Berge zurückwichen.
Deutlich später schreckte er hoch, weil er von außerhalb des Wagens Stimmen hörte. Meng sprach gerade mit einigen Soldaten. Eine Schranke hob sich und gab den Weg frei. Shan war plötzlich hellwach, rieb sich die Augen und blickte dann instinktiv nach unten, als eine Patrouille vorbeifuhr. Sie hatten das Sperrgebiet erreicht. Wegweiser verwiesen auf jedes einzelne von Oberst Tans Zwangsarbeitslagern.
Als die 404. Baubrigade des Volkes in Sicht kam, wurde Shans Mund trocken. Seine Augen konnten sich nicht von den lang gestreckten, baufälligen Baracken abwenden, in denen er jahrelang gelebt und in denen er Lokesh und
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