Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
verantworten?
Shan kehrte zum Kloster zurück, huschte im Schatten von einem Gebäude zum nächsten und hielt oft inne, um über die Schulter zu schauen. Gelbes Absperrband markierte die Stelle neben dem chorten , an der die Leichen gelegen hatten. Das Rechteck aus roter Farbe war noch immer schwach erkennbar. Shan verspürte einen seltsamen Widerwillen, das Band zu übertreten, und beschrieb einen großen Bogen zu der Gebetsmühle, bei der die Nonne ermordet worden war. Ohne darüber nachzudenken, versetzte er die Mühle in Drehung, blieb dann stehen und sah zu. Es war ein Reflex, den er in den Jahren mit Lokesh erworben hatte. Die meisten Tibeter taten das, wann immer sie auf eine Gebetsmühle stießen.
Vor ihm hatte vermutlich die Nonne als Letzte die Mühle angestoßen. Nun hatte Shan die Kette der Gebete aufgegriffen, wie Lokesh es ausdrücken würde, und sein Kettenglied an das der toten Frau gehängt, so wie Nonnen und Pilger es an diesem Fleck mit genau dieser Gebetsmühle seit Jahrhunderten getan hatten.
Er hielt die Mühle weiter in Bewegung, und das leise mahlende Geräusch wurde zu seiner Begleitmusik, als er sich die Nonne bei der Arbeit vorstellte. Ihr war in den Rücken geschossen worden, aber aus schrägem Winkel. Es hatte eine zusätzliche Blutlache gegeben. Der Westler war bei ihr gewesen, hatte ihr geholfen. Der Mörder hatte erst ihm in den Hals geschossenund dann sofort die Nonne getötet, als die sich umdrehen wollte.
Shan drehte erneut die Gebetsmühle und betrachtete sie bekümmert, bevor er sich zum Hof wandte und für einen Moment vergaß, dass er sich am Schauplatz mehrerer Morde befand. Er hatte mit Lokesh schon viele solcher Orte besucht, und der alte Tibeter vermittelte ihm stets irgendwie einen Eindruck von ihrer früheren Pracht, von der vornehmen und ehrfürchtigen Stimmung, die dort über so viele Jahre vorgeherrscht hatte. Doch heute, allein, kam Shan sich klein und leer vor, wie ein Pilger auf Wanderschaft, der sich verirrt hatte.
Zögernd näherte er sich dem chorten . Erst vor wenigen Wochen hatten Shan, Lokesh und Jamyang hier bei Tagesanbruch viel gelacht, während sie gemeinsam den Schrein tünchten. Die lockeren Steine waren neu verlegt und frisch verputzt worden, und während sie ihre Pinsel vorbereiteten, hatten die beiden Tibeter ihm die vielen Arten von chorten aufgezählt, die in den alten Schriften genannt wurden, und dazu jeweils eine Skizze in den Sand gezeichnet. Der Schrein der Erleuchtung, der Lotusschrein, der Radschrein, der Wunderschrein, der Schrein der himmlischen Herkunft, der Siegesschrein, der Nirwanaschrein. Shan erinnerte sich nun, wie Lokesh am Sockel einen Stein entdeckt hatte, der durch den frischen Putz gedrungen war, als hätte sich etwas von innen einen Weg nach draußen gebahnt. Der alte Tibeter hatte nichts dazu gesagt, sondern den Stein einfach wieder an die ursprüngliche Stelle gesteckt und sie übermalt, aber Shan hatte die Sorge auf seinem Gesicht gesehen. Er wusste, dass es chorten gab, die als Fallen und Gefängnisse für Dämonen dienten.
Shan ging auf die andere Seite. Der frische Putz war geborsten. Der Stein war abermals herausgefallen.
Er wich unwillkürlich zurück und starrte den Stein erschrocken an. Dann wandte er sich ab und ging zum vorderen Tor.Der Farbfleck, der eine weitere Blutlache bedeutete, war an einer Ecke des ersten Gebäudes neben dem Tor deutlich zu sehen. Hier war das dritte Opfer beinahe enthauptet worden. Shan schaute in die kleine Nische beim Tor, in der die Tibeter Werkzeuge aufbewahrt hatten. Meng hatte berichtet, man habe dort eine Holzfälleraxt gefunden und halte sie für die Tatwaffe. Doch mit seinem langen Stiel war ein solches Werkzeug eigentlich viel zu unhandlich dafür. Shan glaubte nicht, dass die breiten, sauberen Schnitte, mit denen das Fleisch vom Schädel des Ausländers gehackt worden war, von einer Axt herrührten. Das karge Werkzeugangebot präsentierte allerdings nur wenige Alternativen. Ein primitiver Spaten. Zwei Hacken. Ein Rechen. Eine kleine und sehr stumpfe Sichel. Shan fiel ein, dass einige Bauern angefangen hatten, die rückwärtige Mauer vom Wildwuchs zu befreien.
Es dauerte mehrere Minuten, bis er die Ausrüstung der Bauern gefunden hatte, und zwar in der kleinen Kapelle, bei der er zum ersten Mal Meng begegnet war. Unter einer zerlumpten Filzdecke lagen hier eine Kette, ein Seil, ein kleines Brecheisen und eine schwere Kultursichel mit einer langen gebogenen Klinge an einem
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