Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
robusten Stiel von der Länge seines Unterarms. Er trug die Sichel hinaus in die Sonne und strich mit einem Finger über die Schneide. Shan hatte die Männer bei der Arbeit gesehen; sie konnten mit dieser Klinge daumendicke Äste durchtrennen. Nun hielt er sie sich dicht vor die Augen. Die zerkratzte Oberfläche wies einige Roststellen auf, doch es klebte auch etwas Dunkleres daran. Shan riss ein Stück von dem Filz ab, wickelte es um die Klinge und lehnte die Kultursichel im Eingang der Kapelle an die Wand. Dann nahm er sich die Spuren außerhalb des Gebäudes vor. Meng hatte bei ihrem ersten Treffen den Boden abgesucht. Mittlerweile gab es noch mindestens ein halbes Dutzend weitere Spuren. Zwei oder drei stammten von Polizeistiefeln, zwei waren Shanseigene, aber zwei weitere rührten von weichen Schuhen mit geflochtener Sohle her und führten zurück über die Mauer. Eine davon verlief weiter zu der Stelle, an der die Fahrradspur anfing, die in die Richtung führte, in die auch der Mönch geflohen war, in die Richtung von Chegar gompa, dem Kloster am oberen Ende des Tals. Shan überlegte, ob er der Reifenspur folgen sollte, nahm dann seine Schaufel und steuerte den Pfad an, auf dem er hergekommen war. Er durfte nicht riskieren, dass sein abgestellter Wagen von der Polizei entdeckt wurde.
Eine halbe Stunde später stand er bei seinem Pick-up, schaute enttäuscht nach unten auf die Ruinen und bemühte sich ein weiteres Mal, die Bewegungen der Mordopfer und des Täters zu rekonstruieren.
»Vielleicht will er noch nicht wieder zum Leben erwachen.«
Shan drehte sich langsam zu der unbekannten Stimme um und packte die Schaufel. Er benötigte einen Moment, um die junge Frau auszumachen, denn ihr braunes Gewand hob sich kaum von der Farbe des Hangs ab. Sie saß mit übergeschlagenen Beinen neben einem Strauch Heidekraut.
»Als ich noch klein war, ist häufig ein alter Lama zu unseren Zelten gekommen«, fuhr sie fort. »Er hat gesagt, dass an solchen Orten uralte Geister schlafen. Man kann sie nicht aufwecken, hat er gesagt. Sie wachen von selbst auf, wenn sie es wollen. Und dann können sie unter uns wandeln und sehen wie gewöhnliche Menschen aus.«
Sie war höchstens Anfang zwanzig, aber ihr Gesicht, das auf einer Seite stark vernarbt war und auf der anderen einen melancholischen Ausdruck trug, besagte, dass sie schon viel vom Leben gesehen hatte. Ihr Gewand war das einer Laiennonne, der inoffiziellen Begleiterin und Schülerin einer geweihten Nonne. Auf diese Weise umgingen die Tibeter die immer größeren Einschränkungen, die mit dem Tragen eines kastanienbraunen Gewands verbunden waren.
»Ich habe gelernt, alten Lamas weitgehend zu vertrauen«, erwiderte Shan und lockerte den Griff um die Schaufel.
»Äbtissin Tomo kommt nicht zurück, nicht wahr?«
»Äbtissin?«, fragte Shan überrascht.
»Das Oberhaupt unserer Einsiedelei.«
Die Frau war keine gewöhnliche Nonne gewesen, sondern die ranghöchste Nonne im ganzen Tal. Er schüttelte langsam den Kopf. »Sie kommt nicht zurück.«
»Niemand will über sie reden. Die anderen tun so, als hätte sie sich bloß irgendwohin zurückgezogen.«
»Ich habe ihren Leichnam gesehen.«
Die Frau biss sich auf die Lippe. »Sie hat mich aufgezogen, seit ich zehn Jahre alt war. Seit …« Sie deutete auf ihr Gesicht. »Mein Vater hatte sich einen Lastwagen geliehen, um unsere Schafe zum Markt zu bringen. Es sollte wie ein Festtag sein, und meine Mutter und Großmutter haben uns begleitet. Niemand hatte ihn gewarnt, dass die Bremsen schlecht waren. Wir sind von einer Bergstraße abgekommen. Als der Wagen unten aufgeschlagen ist, gab es eine Explosion und ein Feuer. Nur ein Lamm und ich haben überlebt. Ich nicht mal ganz.« Sie zeigte wieder auf ihr Gesicht.
»Ich heiße Shan«, sagte er.
»Ich bin Chenmo. Manche der älteren Nonnen sagen die Todesriten auf, ganz heimlich, in einer der alten Eremitenhütten. Ich dachte, die wären für Jamyang, also habe ich mich gestern Abend hinter die Hütte gesetzt und mitgemacht. Als ich dann hörte, dass sie ihren Namen sagten, habe ich vor Schmerz kaum noch Luft gekriegt.«
»Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu verabschieden.«
Chenmo nickte traurig. »Sie haben mit den Todesriten für Jamyang angefangen, nachdem Onkel Lokesh vorbeigekommen war und mit den Nonnen gesprochen hatte. Er hatte den toten Lama auf einem Maulesel dabei. Nun sprechen sie dieRiten für zwei. Ich verstehe diesen Tag des Blutes nicht.« Sie hielt inne
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