Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
und wischte sich Tränen von den Wangen. »Er hat gesagt, wir sollten auf einen Chinesen mit Augen wie tiefe Brunnen und schmutzigen Fingernägeln achten. Er hat gesagt, der Mann würde violette Zahlen auf der Haut tragen. Onkel Lokesh hat gesagt, wir könnten ihm vertrauen.«
Tag des Blutes. Der schreckliche Nachmittag der Morde und des Selbstmords würde unauslöschlich in den mentalen Kalendern der Einheimischen vermerkt bleiben, und zwar viele Jahre lang, vielleicht sogar für Generationen.
»Ich sehe alles außer den Zahlen«, sagte Chenmo und rang sich ein Lächeln ab. »Was hat er damit gemeint?«
Shan schob seinen Ärmel hoch und zeigte ihr seinen Unterarm.
»Oh«, sagte Chenmo überrascht. Dann noch einmal. »Oh«, aber düsterer, weil ihr klar wurde, was die Nummer bedeutete. »Lokesh hat gesagt, du siehst Geheimnisse in Todesfällen. Warst du damals ein Mörder?«
»Nein. Einige Minister in Peking fühlten sich sicherer, wenn man mich wegschicken würde. Sie wussten ja nicht, was für einen Segen sie mir erwiesen haben, als sie mich in ein Gefängnis voller Lamas und Mönche steckten. Während der ersten paar Wochen wusste ich es auch nicht. Aber am Ende wurde ich wiedergeboren.«
Chenmo nickte, als verstehe sie das voll und ganz. »Wir kennen Onkel Lokesh, aber dich haben wir noch nie gesehen.«
»Ich möchte die Ruhe eines Klosters nicht stören.« Er wusste, dass Lokesh an solchen Orten stets willkommen sein würde. Doch das galt nicht unbedingt für einen Chinesen im Dienst der Regierung, mochte seine Arbeit auch noch so niedrig sein.
»Wir sind kein Kloster, sondern eine Einsiedelei für Nonnen. Kein Ort für Besucher.«
»Ich wollte aber vorbeikommen. Ich muss etwas dort abgeben.«
Als Chenmo nichts dazu sagte, wies er auf seinen Pick-up, der dicht an der Felswand geparkt stand, die über ihnen aufragte. Die junge Frau stand auf und folgte ihm misstrauisch in mehreren Schritten Abstand. Als er unter das Armaturenbrett griff und das gau hervorholte, das er der toten Nonne abgenommen hatte, legte sich Chenmos Verunsicherung. Mit zitternder Hand nahm sie das silberne Amulett entgegen. Dann schluchzte sie auf und drückte es sich fest an die Brust.
Das gau schien all den Kummer freizusetzen, der sich in der jungen Novizin aufgestaut hatte. Die Tränen flossen nun haltlos über ihre Wangen. Sie ließ sich von Shan zu einem großen flachen Felsblock führen, auf dem sie dann weinend dasaß und das gau in ihren Händen betrachtete.
Nach einigen Minuten brachte er ihr eine Flasche Wasser aus dem Wagen und setzte sich neben sie, während sie trank.
»Es tut mir leid«, sagte Chenmo. »Ich bemühe mich, nicht vor den Nonnen zu weinen.«
»Ich bin sicher, die haben auch geweint, nur eben auf ihre eigene Weise«, sagte Shan.
Die junge Frau lächelte bekümmert.
»Bist du Äbtissin Tomo in den alten Ruinen je zur Hand gegangen?«, fragte er.
Als sie nickte, fuhr er fort. »Es waren noch zwei andere bei ihr, zwei andere, die gemeinsam mit ihr in den Ruinen getötet wurden. Ein Chinese mit Tätowierungen und ein Ausländer. Hast du sie gekannt?«
»Da kamen keine Chinesen, nicht zu den Ruinen.«
»Aber es gab einen Ausländer.«
Chenmo wandte den Blick nicht von dem gau ab, während sie sprach. »Mutter Tomo hat gesagt, wir sollen nicht darüberreden. Sie waren geheim und wurden von geheimen Leuten hergebracht.«
Shan überlegte. Es gab also mehr als einen Ausländer. »Du meinst den Widerstand. Die purbas .« Der tibetische Untergrund hatte sich nach dem Dolch der buddhistischen Zeremonien benannt.
»Sie benutzen keine Namen. Nur Dharamsala. Das sagen sie wie ein Passwort.« Es war der Name einer Stadt in Nordindien, die als Sitz der tibetischen Exilregierung fungierte. »Manchmal kommen sie aus Indien herüber. Sie handeln im Schatten und gehen zurück im Schatten.«
Shan hatte gesehen, wie der Widerstand agierte. Es wurden Gebete von hochrangigen Lamas gebracht oder Briefe zwischen Familienmitgliedern zugestellt, die durch die Schließung der Grenze voneinander getrennt worden waren. Doch es gab auch Tankwagen, die unter rätselhaften Umständen in Brand gerieten oder entlegene Strom- und Telefonmasten, die nachts umkippten. Die Schergen der Öffentlichen Sicherheit waren schon besessen hinter abtrünnigen Mönchen her, aber wenn sie von solchen Vorgängen Wind bekamen, wurden sie zu tollwütigen Hunden. Die Aggressivsten der jungen Widerständler hielten sich nicht immer an die
Weitere Kostenlose Bücher