Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
wollte ihre Geschichte so sehnlich nicht glauben, aber er sah an ihrem Blick, dass die Frau dieWahrheit sagte. Er bedeutete ihr, ihm zurück zum Wagen zu folgen.
***
Er hielt sich nicht damit auf, den Verwalter des Lagers des Reinen Wassers anzusprechen, der gerade ein Plakat an der Wand seines Gebäudes befestigte, als Shan aus dem Pick-up stieg. Stattdessen marschierte Shan einfach durch das Tor und spürte den besorgten Blick des Mannes auf seinem Rücken.
»Dies ist Chinas Jahrhundert, Genosse!«, rief der dicke Mann ihm hinterher. Das war wortwörtlich das, was auf dem Plakat stand.
Das karge Gebäude, das Jigten sich mit seiner Mutter teilte, schien leer zu sein, als Shan die Sackleinwand zurückzog, die das Fenster von außen bedeckte. Er klopfte einmal an die Tür und trat ein, bevor er den flachen, krächzenden Atem hörte und sah, dass der vermeintliche Haufen grauer Decken auf der Pritsche die alte Frau war, zusammengerollt wie eine schlafende Katze.
Wortlos durchsuchte er den Raum und ließ Staub aufwirbeln, als er in einem Korb voller Kleidung herumstocherte. Dann hob er eine Kiste an, die als Sitzgelegenheit fungierte. Im Innern der Kiste hatte jemand einen Stoffbeutel angeheftet. Er enthielt drei kleine Taschenrechner und zwei anscheinend defekte Armbanduhren.
Der größte Teil von Jigtens Warenlager fand sich schließlich in dem kleinen Schrank an der Rückseite der Kochnische. Im obersten Fach, hinter einer Reihe leerer Wasserflaschen, stieß Shan auf das Gesuchte. Er zog den blauen Nylonrucksack ins Licht, das zur offenen Tür hereinfiel, und öffnete jedes einzelne der Reißverschlussfächer. Als er gerade das letzte Fach durchsuchte, erschien ein Schatten im Eingang.
Die Überraschung auf Jigtens Gesicht wich sogleich großer Verärgerung. Er trat ein. »Du kannst doch nicht einfach hier hereinkommen und uns berauben«, sagte der Hirte mit bemüht leiser Stimme.
»Ich nehme die Wahrheit, wo ich sie finde«, erwiderte Shan. »Auch wenn das bedeutet, sie zu stehlen.« Die Außenfächer des Rucksacks waren mit gefriergetrockneter Nahrung vollgestopft, und im Hauptfach gab es weitere Nahrung, ein halbes Dutzend Karabinerhaken und einen kleinen Gaskocher, der in einen Anorak gewickelt war. Auf der Innenseite der Verschlussklappe stand mit schwarzem Stift ein Name geschrieben. Cora Michener.
»Die Wahrheit.« Jigten stieß das Wort wie eine Verwünschung hervor. »So wie die Chinesen, die uns in diesem Lager abgeladen und behauptet haben, sie seien nur an unserem Wohlergehen interessiert. Ich kann mich an einen Scheißkerl erinnern, der lachend unsere Schafe erschossen hat. Er hat mich gefragt, ob ich fühlen könne, wie meine Ketten von mir abfallen.«
Shan hielt Jigten den Rucksack hin. »Ich könnte das hier zur Öffentlichen Sicherheit bringen. Sobald die Kriecher feststellen, dass es ihrem toten Ausländer gehört hat, werden sie vom Schlimmsten ausgehen. Die brauchen jemanden, dem sie die Morde anhängen können. Dies wäre das einzige Beweisstück, das mit dem Deutschen zu tun hat.«
Jigten wurde bleich. Er lehnte sich neben der Tür an die Wand, schien immer kraftloser zu werden und rutschte dann langsam daran zu Boden. »Sie waren weg«, murmelte er. »Sie würden nicht zurückkommen.«
»Woher wolltest du das wissen?«
»Der Deutsche war tot. Und diese Amerikanerin war eine verängstigte Maus auf einem Feld voller Katzen. Falls nicht ich das Zeug genommen hätte, dann jemand anders.« Jigten zogeine kleine Flasche Medizin aus seiner Weste und schaute zu seiner schlafenden Mutter. »Ich habe Unkosten«, flüsterte er.
»Wie konntest du von dem Lagerplatz wissen?«
»Da gab es dieses Mädchen. Einige von uns sind manchmal hingegangen und haben bei den alten Ruinen geholfen. Meine Mutter hat gesagt, ich sollte auch gehen, denn ich müsse mir bei den Göttern Verdienste erwerben«, sagte er mit verbittertem Grinsen. »Ich habe Schutt weggeräumt. Und diesen alten chorten geflickt und getüncht. Sie war hin und wieder mit den Nonnen da. Zuerst habe ich auch sie für eine Nonne gehalten. Sie hat eine alte chuba getragen, einen Hirtenmantel, und einen Hut, wie irgendein tibetisches Mädchen. Ich habe sie nie sprechen gehört und dachte, sie hätte vielleicht eine Art Gelübde abgelegt. Doch nachdem wir eines Tages schwere Steine geschleppt hatten und gerade Pause machten, hat sie einen Schokoriegel zerbrochen und jedem von uns ein Stück gegeben. Ich habe das Einwickelpapier gesehen.
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