Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Papier aus dem Eimer zu fischen und sich unter das Hemd zu stopfen.
Im nächsten Moment öffnete sich die Tür, und Liang trat ein. Die Wachen eilten zu Shan und wuchteten ihn zurück auf den Stuhl. Als Liang schweigend hinter ihn trat, explodierte sein Nacken vor Schmerz. Shans ganzer Körper verkrampfte sich, und sein Rücken prallte gegen die Lehne des Metallstuhls. Keuchend rang er nach Luft.
»Sehr gut«, stellte Liang fest und blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen. »Ich habe Ihre Aufmerksamkeit.« Er hielt einen kleinen elektronischen Taser in der Hand. Früher hatten die Kriecher elektrische Viehtreiber bevorzugt. Sie gingen mit der Zeit.
Einer der Posten legte einen von Shans kleinen Papierkranichen vor Liang auf den Tisch. Der Major seufzte. Er nahm den Kranich und riss ihm sorgfältig die Schwingen und den Kopf ab. Mit kühlem Grinsen warf er Shan die Einzelteile entgegen und erhöhte dann seelenruhig die Stromstärke des Tasers.
»Sie haben sich in dieses Umerziehungslager werfen lassen, um dort jemanden zu treffen«, behauptete Liang. »Ich glaube, es ging um einige dieser Nonnen, die die tote Äbtissin gekannt haben. Was wissen die über die Morde? Verraten Sie es mir, und wir können den Frauen gegenüber etwas Nachsicht walten lassen.«
Shan sagte erst etwas auf Tibetisch und sah die Wut in Liangs Miene ansteigen. Dann übersetzte er auf Chinesisch. »Nonnen sind die Botinnen der Götter. Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sie fragen.«
Liang nahm den Taser und kam wieder langsam um den Tisch herum. »Die indischen Radschas haben sich früher riesige, unnatürlich starke Männer gehalten und sie als Folterknechte eingesetzt. Sie konnten einem Mann den Kopf abdrehen. Ich habe mal gelesen, wie sie einem Delinquenten mit bloßen Händen einen Nagel in den Schädel getrieben haben.« Er hob das Kästchen in seiner Hand. »Als ich hieran ausgebildet wurde«, erklärte er mit gespielter Faszination, »hieß es, dieses Ding schicke einen Blitzstrahl ins Fleisch, und man sollte es nur an Muskelgewebe anwenden.« Shan packte beide Armlehnen, als Liang hinter ihm verschwand. »Aber ich habe mich immer gefragt, ob der Schädelknochen wohl einen Blitz abwehren könnte.«
Der Schmerz war schlimmer als alles, was Shan je erlebt hatte. Sein Rücken bog sich durch, seine Augen sahen nur noch Lichtexplosionen. Sein Körper bewegte sich wie von selbst, zuckte, prallte gegen den Stuhl, dann hieb sein Kopf gegen den Tisch und wieder und wieder. Tee und Magensäure liefen über sein Kinn. Liang lachte und drückte ihm das Gerät erneut gegen die Kopfhaut. Der Blitzstrahl fuhr in Shans Hirn, tiefer und tiefer.
Das musste der Tod sein. Niemand konnte einen solchen Schmerz überleben. Shans Hände auf den Stuhllehnen ruckten hoch und runter. Sein Schädel würde explodieren. Das weißglühende Feuer in seinem Kopf ließ nach und flammte auf, ließ nach und flammte auf, als würde jemand immer wieder in die Glut pusten. Sein Kinn sackte auf die Brust. Er nahm nichts mehr wahr, nur noch die brüllenden Schmerzen.
Jemand schüttete kaltes Wasser über ihn aus. Shan kam schlagartig zu sich und richtete sich stöhnend auf.
»Wir werden über diese Nonnen reden«, knurrte Liang.
Shan konnte nur verschwommen sehen. Er erkannte Liangs Hand, die abermals die Einstellung des Tasers änderte. Erdachte an seinen Sohn und an Lokesh. Das war das Ende. Er hatte immer gewusst, dass er durch die Hand eines Kriechers sterben würde, nur den Zeitpunkt hatte er nicht gekannt.
»Jeder, der dieser amerikanischen Schlampe hilft, ist ein Verräter am Mutterland!«, zischte Liang. »Jeder, der …« Er verstummte abrupt, weil die Tür aufgerissen wurde.
Ein hochgewachsener, schlanker Mann mit scharf geschnittenem Gesicht und der Felduniform eines hochrangigen Armeeoffiziers trat ein, flankiert von zwei knüppelharten Männern in den Kampfanzügen der Gebirgsjäger. Der Offizier schnappte sich den Taser und warf ihn so fest gegen die Wand, dass er zerbrach.
Als einer der Posten vortrat, um Liang zu beschützen, gab der Armeeoffizier einem seiner Männer einen kurzen Wink. Der Gebirgsjäger trat vor und schickte den Kriecher mit einem einzigen schnellen Handkantenschlag zu Boden.
»Ich bin Oberst Tan«, verkündete der Offizier. »Der Kommandant des Bezirks Lhadrung.« Seine Stimme war wie das leise Knurren eines sprungbereiten Raubtiers.
Liangs Mund bewegte sich, aber es kamen keine Worte heraus.
Tan zeigte auf Shan.
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