Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
»Dieser Mann gehört mir!«
KAPITEL ZWÖLF
Auf dem Gebirgskamm, der die Grenze des Bezirks Lhadrung darstellte, ließ Tan den Wagen anhalten. Er bedeutete Shan, ihm zu folgen, und befahl seinen Männern, beim Fahrzeug zu bleiben. Sie gingen zu einem Sims, von dem aus man das Tal überblicken konnte.
Tan sagte nichts, bis er sich eine Zigarette angezündet hatte. »Du siehst beschissen aus. Was hat er mit dir gemacht?«
Shan bekam seine zitternde Hand nicht unter Kontrolle. Er starrte sie einen Moment lang an und packte sie dann fest mit der anderen Hand. »Ein Experiment. Er nannte es einen Blitz in meinen Schädel treiben.«
Der Oberst blies zwei Rauchschwaden aus den Nasenlöchern. »Es hat mit den Morden hier oben zu tun.«
»Ich glaube nicht, dass sie offiziell als solche anerkannt wurden.«
Tan ignorierte ihn. »Und du hast dich inoffiziell in diese inoffiziellen Morde eingemischt. Verflucht noch mal, kannst du denn niemals Ruhe geben? Das ist Sache der Öffentlichen Sicherheit. Du weißt, dass es nicht in meine Zuständigkeit fällt.«
Shan hörte das Eis in der Stimme des Obersts und wusste, dass sein Jähzorn heißer brennen konnte als jeder Taser. Er machte einen wackligen Schritt und ließ sich auf einem Felsen nieder. »Ein toter Deutscher. Eine vermisste Amerikanerin. Mit etwas Glück bleiben Ihnen vielleicht zwei oder dreiWochen, bevor es in Ihrem ganzen Bezirk von Ausländern wimmelt. Zuerst das Botschaftspersonal. Dann die Reporter.«
Tan nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Wie viele Jahre hat er noch übrig?«
Shans Herz zog sich zusammen. Tan kannte Möglichkeiten, ihn zu foltern, von denen Liang nicht mal zu träumen gewagt hätte. »Zehn Jahre. Ko muss noch zehn Jahre verbüßen.«
»Mit einer kurzen Anweisung könnte ich ihn in eine andere Strafanstalt verlegen lassen. In die Mandschurei. Die Wüste Gobi. Den Dschungel. Auch falls du sofort damit anfangen würdest, hättest du ihn in zehn Jahren vermutlich immer noch nicht gefunden. Außerdem hast du keine Papiere und würdest wahrscheinlich ständig aufgegriffen werden.«
»Ich habe die Arbeitspapiere, die Sie mir gegeben haben.«
»Genau. Die werden also in meinem Büro anrufen. Und immer wenn ich deinen Namen höre, werde ich deinen Sohn erneut verlegen lassen. Wenn er freikommt, wird er keine Ahnung haben, wo du steckst. Ihr werdet beide in China umherwandern und einander suchen und darüber alt werden. Wie in einer dieser alten tragischen Opern.«
Shan bemühte sich, seinen Schmerz und seine Verzweiflung in den Griff zu bekommen. Liang war jemand, der Drohungen erfand, um andere einzuschüchtern. Tan nicht. Er würde es tun. Er gab niemals eine leere Drohung von sich. Und er würde es als seine Pflicht betrachten, diesen Ruf zu wahren. »Die Morde sind im Bezirk Lhadrung geschehen«, sagte Shan. »Wenn die Ausländer kommen, werden sie bei Ihnen anfangen.«
»Wir werden ihnen nicht gestatten zu kommen.«
»Sie kennen doch diese ausländischen Reporter. Die setzen sich einfach ins Auto und fahren los. Wenn man sie zurückweist, werden sie nur umso hartnäckiger. Sie können diese Leute nicht einsperren. Für jeden, den Sie wegschicken, kommenzwei Neue. Jemand wird fragen, wieso die Einheimischen den nördlichen Abschnitt des Bezirks als Tans Höllenloch bezeichnen. Wie viele Gefängnisse haben Sie zurzeit? Zehn? Ein Dutzend? Die werden Ihre Strafkolonie aufdecken. Sie sollten lieber hoffen, dass am selben Tag irgendein amerikanischer Politiker mit einer Geliebten erwischt wird, sonst finden Sie sich auf allen Titelseiten des Westens wieder.«
»Die Öffentliche Sicherheit weiß, wie man solche Sachen regelt.«
»Ausgerechnet Sie erwarten, dass die Öffentliche Sicherheit die Wahrheit herausfindet?«
Tan runzelte die Stirn. »Ich sagte, sie würden die Sache regeln.«
»Liang gehört zu denen, die nach der bequemsten Lösung suchen. Diese Sorte ist Ihnen vertraut, wenn ich mich nicht irre.« Im Jahr zuvor hatte Shan den Oberst vor einem anderen übereifrigen Kriecher bewahrt, der ihn wegen Mordes hinter Gitter gebracht hatte. Tan verdankte Shan sein Leben, und er hasste Shan dafür.
Der Oberst musterte ihn schweigend, nahm einen letzten tiefen Zug von seiner Zigarette und warf den Stummel in die Tiefe. »Ich setze dich bei der Ambulanz in Baiyun ab. Falls du mir noch einmal Scherereien machst, wirst du nicht mal mehr Gelegenheit haben, dich von deinem Sohn zu verabschieden.«
***
Die Krankenschwester, die die
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