Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Ambulanz leitete, untersuchte Shans Hand und schüttelte den Kopf. Immer wenn sie die Finger losließ, rollten sie sich wieder ein und gruben sich in seine Handfläche.
»Die Nerven wurden geschädigt«, teilte sie ihm mit. »Sie sollten nach Lhasa fahren und eine Kernspintomografie anfertigenlassen. Von den möglichen Hirnschäden ganz zu schweigen.« Sie hatte die nässenden Kontaktverbrennungen des Tasers auf seiner Kopfhaut gesäubert.
»Ich dachte eher an ein paar Aspirin«, sagte Shan.
»Tut es weh?«
»Als hätte jemand eine Klinge in meinen Kopf gesteckt und würde sie hin- und herdrehen.«
Die Chinesin runzelte die Stirn. »Sie brauchen Ruhe. Mindestens eine Woche. Falls Sie sich zu viel zumuten, könnte das Ihren Tod bedeuten.«
Shan hörte, wie die Tür hinter ihm sich öffnete. Die Arzthelferin am Schalter war wütend geworden, als Tans Soldaten Shan an dem halben Dutzend wartender Patienten vorbei ins Behandlungszimmer geschoben hatten.
Die Krankenschwester blickte fragend über seine Schulter und reichte ihm ein unbeschriftetes Fläschchen mit roten Pillen. »Gehen Sie nach Hause. Ihre Familie soll sich um Sie kümmern.«
»Ein sehr guter Vorschlag«, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Shan drehte sich um und sah Professor Yuan dort stehen. »Wollen wir los, Xiao Shan?«, fragte der Professor und zeigte auf die Tür. Xiao Shan. Kleiner Shan. So würde ein Onkel die jüngeren Familienmitglieder ansprechen.
»Ich kann nicht …«, murmelte Shan.
»Keine Widerrede«, beharrte Yuan und half ihm vom Untersuchungstisch auf. »Es gibt da ein Dilemma, bei dem wir etwas Hilfe benötigen.«
Shan folgte ihm in einem Nebel aus Schmerz und Erschöpfung. Eine Viertelstunde später brach er auf einem Bett im Haus des Professors zusammen, nachdem er eine Schüssel Brühe getrunken und zwei der roten Pillen geschluckt hatte.
Als er erwachte, war es dunkel. Neben seinem Bett brannte eine Kerze. Er schaute nach draußen zum Mond. Er hattemindestens zehn Stunden geschlafen. Der glühend heiße Kopfschmerz war einem dumpfen Druck gewichen. Shan streckte die Finger aus. An einer Hand blieben sie gerade, an der anderen rollten sie sich sofort wieder ein. Er versuchte aufzustehen und fiel zurück aufs Bett. Lange Zeit lag er da und starrte den Boden an. Die Erinnerungen an seine Haft kehrten zurück. Dann griff er unter sein Hemd und strich das zerknüllte Papier glatt, das er aus dem Mülleimer geholt hatte. Es war ein leeres Überstellungsformular. Meng hatte den Brief nicht weggeworfen. Sie hatte vielmehr eine Scharade für die Überwachungskamera aufgeführt, um seinen Brief an Ko zu retten.
Aus dem Wohnzimmer hörte er leises Lachen und mehrere Chinesisch sprechende Stimmen. Seltsam verlegen näherte er sich der Tür, zögerte dann und sah sich im Zimmer um, als wäre es das erste Mal. Auf einer Anrichte standen gerahmte Fotos eines viel jüngeren Yuan mit seiner Frau und der Tochter Sansan, dazu mehrere von Sansan allein. An der Wand hingen drei Blätter mit eleganter Kalligrafie, Zeilen aus alten Gedichten, und daneben Haken mit Kleidung.
Shan hielt sich an der Rückenlehne eines Stuhls fest und musste gegen einen neuen Schwall von Gefühlen ankämpfen. So sah das Zuhause einer Familie aus. Shan hatte in seinem ganzen Leben keinen solchen Ort, kein solches Heim gehabt, und er wusste, dass das vermutlich auch niemals geschehen würde. Er zwang sich, den Blick abzuwenden, öffnete dann die Tür, trat hinaus und erstarrte.
Um den Tisch saßen vier Männer und eine Frau, alle Ende sechzig oder Anfang siebzig. Unter der Decke des von Kerzen beleuchteten Raumes hing eine Wolke Tabakrauch. Am Rand des Tisches standen eine Flasche billiger Reiswein und mehrere Gläser, und in der Mitte lagen einige Würfel und ein Bündel Stäbchen. Es war wie eine Szene aus seiner Jugend, wenn dieälteren Bewohner seines Blocks bis in die frühen Morgenstunden aufgeblieben waren und Zahlen geworfen hatten, um das I Ging zu befragen. Es war ein zeitloser Anblick, ein seit Jahrhunderten fester Bestandteil der chinesischen Dörfer.
Professor Yuan blickte vom Tisch auf. »Xiao Shan! Bitte, setzen Sie sich zu uns! Wir sind gespannt auf Ihren Rat.«
Als der Professor ihn den anderen vorstellte, erkannte Shan, dass er sie alle schon gesehen hatte, und zwar beim Schachoder Damespiel auf dem Platz der Stadt.
»Der Held des Hammers«, rief der Älteste, ein nahezu kahlköpfiger Mann mit dicker Hornbrille. »Wissen Sie, die haben die
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