Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
nur die Lampe am Eingang warf einen trüben Widerschein. Am Verhörtisch saß eine stumme Gestalt im Schatten und sah Shan an. Die Silhouette – steife Uniform mit hoher Schirmmütze – verriet ihm, dass es sich um einen von Liangs Lakaien handelte, zweifellos, um der Botschaft des Majors mehr Nachdruck zu verleihen. Shan stellte den Hocker dicht an das Gitter und setzte sich, das Gesicht dem Kriecher zugewandt. Das war ein Gefangenenspiel, und Shan erschrak, wie mühelos er sichdaran erinnern konnte. Die Angst mag deine Eingeweide zerfressen und dich aushöhlen, aber du darfst es dir nie anmerken lassen.
Er konnte nicht sagen, wie lange er die Schattengestalt anstarrte. Das Licht des Mondes wanderte über den Boden seiner Zelle. Der tibetische Häftling murmelte weiter sein Mantra, das bisweilen mit Schluchzern durchsetzt war. Shan sah dort keinen Kriecher vor sich, sondern ein Gespenst, ein dunkles, seelenloses Phantom als Abbild seiner Regierung. Er war so müde, so gefangen in diesem Bann, dass er aufkeuchte, als er plötzlich merkte, dass das Gespenst aufgestanden war und auf ihn zukam. Es war immer noch so dunkel, dass er das Gesicht erst im letzten Moment erkennen konnte. Das war kein Phantom, sondern Leutnant Meng, eine blasse und sichtlich mitgenommene Meng in gestärkter Uniform, das Haar straff nach hinten gebunden.
Meng öffnete den Mund, fand aber keine Worte. Shan zog den zusammengefalteten Brief aus der Tasche und schob ihn durch das Gitter. Sie zögerte, als hätte sie Angst vor dem Papier, griff dann hastig zu und steckte es sich unter den Waffenrock. Ohne einen weiteren Blick auf Shan machte sie kehrt, ging zurück zum Tisch, zog die Schublade auf und nahm einen Zettel heraus. Sie zerknüllte Shans Brief und warf ihn in einen Mülleimer. Dann ging sie zu seiner Zelle, warf den neuen Zettel hinein und verließ das Gebäude. Es war ein weiteres Überstellungsformular.
Shan beobachtete verwirrt, wie Meng hinaus auf das Gelände verschwand. Er seufzte und setzte sich wieder auf die Pritsche. Nach langer Zeit stand er auf, nahm das Stück Kreide und flüsterte dem Tibeter etwas zu.
Er lag schlafend auf der Pritsche, als der überraschte Ausruf eines Wachpostens ihn hochschrecken ließ. Durch das Fenster fiel das Licht des frühen Morgens herein. Der Tibeter saßimmer noch auf dem Boden, sang aber inzwischen ein leises Lied. Der Posten rannte aus dem Gebäude und kehrte kurz darauf mit zwei seiner Kameraden zurück. Alle drei Männer brachen in wütendes Geschrei aus, zeigten auf Shan, dann auf den Tibeter, dann auf die kleinen Geschöpfe in beiden Zellen und den Kreis auf dem Zellenboden des Tibeters. Mit Shans Kreide und unter seiner sorgfältigen Anleitung hatte der Tibeter ausgehend von der Abflussplatte ein Mandala erschaffen. Shan hatte aus dem Schreibblock, der für sein Geständnis gedacht war, unterdessen Origami-Vögel gefaltet. Jeweils ein kleiner Schwarm saß nun auf den Fensterbänken der beiden Zellen, und weitere waren in den Zellen verteilt. Einer der Posten lief zurück zur Tür, um seine Kameraden gegebenenfalls vor nahenden Offizieren zu warnen. Die anderen schlossen die Zellen auf und verfluchten die zwei grinsenden Häftlinge, während sie hastig die Vögel einsammelten und dann den Gebetskreis mit den Stiefeln wegscharrten.
Sie stießen Shan zornig mit ihren Schlagstöcken gegen die Wand, legten ihm Fußfesseln an und zerrten ihn zum Verhörtisch. Dann verschwanden sie und kamen mit einer lauwarmen Tasse Tee zurück, aus der er mit langsamen Schlucken trank. Er streckte sich theatralisch und ignorierte seine Bewacher. Stattdessen nahm er seine Umgebung genau in Augenschein. Sein Blick verweilte auf dem Stuhl, auf dem Meng so lange gesessen und ihn beobachtet hatte. Dann suchte er Wände und Decke ab.
Oben im dunklen Winkel hing ein kleines schwarzes Gerät. Eine Kamera. Meng hatte an der einzigen Stelle gesessen, die für die Kamera unsichtbar war. Als sie sich seiner Zelle genähert hatte, hatte sie dem Objektiv die ganze Zeit den Rücken zugewandt und den Kopf gesenkt gehalten, um nicht erkannt werden zu können.
Shan leerte die Tasse, griff sich an den Bauch und krümmtesich stöhnend, spuckte ein wenig der braunen Flüssigkeit aus, sah sich verzweifelt um und sprang dann zu dem Mülleimer, um noch mehr hervorzuwürgen. Einer der Posten lachte, der andere stieß einen Fluch aus und entfernte sich ein Stück von Shan. Shan nutzte die Gelegenheit, um das zerknüllte Blatt
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