Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Sie hat gesagt, nur wer auch selbst das Mehl mahlt, dürfe hinterher behaupten, er habe eigene Teigtaschen gemacht.«
Die Frau lächelte schüchtern und fing schweigend an, die Gerstenkörner zu mahlen. Shan verspürte bei dem Anblick eine seltsame Sehnsucht im Herzen. Das Geräusch des Stößels war wie das eines Baches, der über Kiesel floss. Ein Zaunkönig kam geflogen. Die Frau hielt ihm auf der ausgestreckten Hand ein Getreidekorn hin, das der kleine Vogel ohne Scheu aufpickte.
»Deine Großmutter hat viel mehr Mönche bekocht, als heute hier leben«, sagte Shan, nachdem er sich wieder dem Kloster zugewandt hatte.
»Sie machen eine schwere Zeit durch. Die meisten der Mönche haben sich geweigert, diese Treueide zu unterzeichnen, und die Regierung wollte das Kloster schon schließen und nach all den Jahren endgültig niederreißen. Doch dann ist Abt Norbu gekommen und hat die Mönche und das gompa gerettet.«
»Indem er eine chinesische Flagge gehisst hat?«
Die Frau zuckte die Achseln. »Er hat es gerettet. Er rettet es jeden Monat.« Dabei nickte sie in Richtung eines unauffälligen Gebäudes direkt vor dem Haupttor.
Shan sah dort Mönche auf der Bank neben der Tür sitzen. Dann erschauderte er, denn es kam ein Mönch heraus, gefolgt von einem Beamten in grauer Uniform.
»Die Öffentliche Sicherheit kommt jeden Monat?«, fragte er, als der Beamte den nächsten Mönch hineinwinkte.
»Manchmal die Kriecher. Manchmal das Büro für Religiöse Angelegenheiten. Manchmal beide.«
Gompas wurden amtlich geprüft. Gompas hatten regelmäßig ihre Staatstreue nachzuweisen. Gompas mussten schriftlichfür die Loyalität und ordnungsgemäße Registrierung ihrer Mönche einstehen, aber Shan hatte noch nie gehört, dass ein so kleines gompa jeden Monat kontrolliert wurde. »Warum so oft?«, fragte er. »Was ist denn so besonders an diesem gompa ?«
Als die Frau aufblickte, lag ein merkwürdiges Grinsen auf ihrem Gesicht.
»Vielleicht nicht das gompa «, tastete Shan sich vor. »Das Dorf. Was hat das Dorf getan?«
»Vor zehn Jahren gab es hier einen Bauern. Als dessen Kinder eines Tages aus der Schule kamen, hatte man ihnen chinesische Namen an die Kleidung geheftet. Sie erzählten ihm, die Lehrer würden ihnen nicht länger erlauben, ihre richtigen Namen zu benutzen. Da hat er beschlossen, selbst Unterricht zu geben, abends, wenn die chinesischen Lehrer weg waren. Bis die Chinesen etwas davon mitbekamen, war er schon im ganzen Tal berühmt. Als sie ihn holen wollten, ist er in die Berge geflohen, und sie haben einige Leute verhaftet, die ihn unterstützt hatten. Da ist er wieder hinabgestiegen, um all jenen zu helfen, die Ärger mit den Behörden hatten. Er fing an, Tibeter über die Grenze zu führen, vorbei an den Armeepatrouillen. Nachdem er seine Familie nach Indien gebracht hatte, hat die Öffentliche Sicherheit eine Belohnung auf ihn ausgesetzt. Heute gehört er zur Exilregierung und ist dort ein wichtiger Beamter. Aber die Öffentliche Sicherheit weiß, dass er hier noch Angehörige hat.«
»Sind auch Mönche darunter?«
»Einer. Ein Neffe namens Dakpo.«
»Wurde jemand aus dem gompa verhaftet?«
»Einer. Aber er ist zurückgekommen.«
Shan sah dabei zu, wie die Mönche nervös auf der Bank warteten. Ihm fiel auf, dass alle, die ihr Gespräch mit der Öffentlichen Sicherheit hinter sich gebracht hatten, danach einbestimmtes Gebäude auf dem Klostergelände betraten. »Wofür genau wurde er verhaftet?«
»Dafür, dass er gesprochen hat, wie ein Tibeter sprechen sollte«, erwiderte sie mit trotzigem Unterton. Dann wollte sie nichts mehr sagen.
Shan bedankte sich und bog auf den Pfad hinunter zum Dorf ein. Er betrat einen Stall und beobachtete den Ort durch einen Spalt der Bretterwand. Auf dem Hang hinter einem Bauernhaus, außer Sichtweite der Kriecher, scheuchte eine Frau ein halbwüchsiges Mädchen mit einem Korb Getreide fort, ein Reflex aller Leute, die es gewohnt waren, von Steuereintreibern belästigt zu werden. Ein alter Mann mit dünnem Bart und schwarzer Weste saß kerzengerade auf einem Stuhl vor der Tür eines anderen Hauses, hielt einen Gehstock und hatte den Kopf leicht in Richtung des Klosters geneigt, als würde er auf etwas lauschen. Zwei Kinder rannten vorbei, gefolgt von einem Welpen. Eine Frau lachte, weil eine Ziege ein Wäschestück von einer Leine zog und dann die Straße hinunter floh. Der alte Mann reagierte auf keine der Bewegungen. Er war blind, erkannte Shan.
Er harrte aus,
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