Der Tierarzt kommt
Nachdenken.
»Sehr gut, Mr. Mount. Das paßt mir ausgezeichnet. Geben Sie ihm am Sonntag kein Futter, denn ich werde ihn betäuben müssen.«
Als ich wegfuhr, bedrückten mich unheilvolle Gedanken. Würde ich in meiner Unwissenheit dieses herrliche Tier zugrunde richten? Strahlfäule war auf jeden Fall sehr unangenehm. Zur Zeit der Wagenpferde war sie nicht ungewöhnlich. Sicher hatten viele meiner Vorgänger schon Ähnliches gesehen wie ich heute, aber für einen modernen jungen Tierarzt ist es wie etwas aus dem Mittelalter.
Wie immer, wenn ich einen schweren Fall habe, fing ich gleich mit dem Grübeln an. Auf der Fahrt überlegte ich mir bereits verschiedene Prozeduren. Konnte man dieses Riesenpferd mit einem Chloroformsack betäuben? Oder mußte ich alle Knechte zusammenrufen, das Tier fesseln und auf die Seite legen lassen? Aber da konnte man ebensogut versuchen, die St. Paul’s Cathedral auf die Seite zu legen. Und wie lange würde ich brauchen, um die viele Hornhaut, all die Warzen und Auswüchse wegzukratzen?
Nach zehn Minuten schwitzten mir die Hände, und ich war versucht, es aufzugeben und den Fall Siegfried zu überlassen. Aber ich mußte mir ja nicht nur das Vertrauen der Bauern, sondern auch das meines Chefs verdienen. Was würde er von einem Assistenten halten, der nicht einmal selbständig arbeiten konnte?
Ich tat, was ich immer tue, wenn ich Sorgen habe: ich fuhr von der Straße herunter, stieg aus dem Wagen und folgte einem Pfad über das Moor. Der Weg führte auf den Hügel, der über Mr. Mounts Farm lag, und als ich weit genug von der Straße entfernt war, ließ ich mich auf das Gras sinken und schaute ins sonnige Tal hinunter.
In den meisten Gegenden hört man immer etwas – das Zwitschern eines Vogels oder einen Wagen in der Ferne –, aber hier herrschte absolute Stille, und nur hie und da rauschte leise das Farnkraut im Wind.
Die Farm lag inmitten grüner Weiden, wo das Vieh graste, und Wiesen, wo das Heu in hohen Ballen aufgerichtet stand.
Es war ein idyllisches Bild. Aber erst hier oben auf den Hügeln fühlt man sich wirklich unbeschwert. Im warmen Duft nach Heu, Heide und Moor waren plötzlich alle meine Sorgen verschwunden. Auch heute, nach all den Jahren, gewinne ich in dieser schönen Landschaft noch oft meinen inneren Frieden zurück.
Als ich aufbrach, war ich ganz gelassen. Irgendwie würde ich es schon schaffen, und ich brauchte Siegfried nicht damit zu belästigen.
Siegfried war auch mit anderen Dingen beschäftigt, als ich mich zu ihm an den Mittagstisch setzte.
»Ich bin heute früh in Granville Bennetts Praxis in Hartington gewesen«, sagte er, während er sich neue Kartoffeln aus unserem Garten auf den Teller häufte. »Und ich muß sagen, daß mich sein Wartezimmer sehr beeindruckt hat. All diese Zeitschriften. So etwas haben wir hier nicht zu bieten, obgleich die Farmer oft lange warten müssen.« Er goß sich Sauce über die Kartoffeln. »Tristan, das ist ein Auftrag für dich. Geh zu Garlows rüber und abonniere ein paar passende Magazine.«
»Wird gemacht«, erwiderte sein junger Bruder. »Noch heute nachmittag.«
»Wunderbar.« Siegfried war zufrieden. »Wir müssen in jeder Hinsicht mit dem Fortschritt gehen. James, nehmen Sie doch noch ein paar Kartoffeln; sie sind wirklich ausgezeichnet.«
Tristan machte sich tatsächlich gleich ans Werk, und zwei Tage später lag eine stattliche Auswahl von Zeitschriften auf dem Tisch im Wartezimmer. London News, Farmer’s Weekly, Zuchtvieh und Landwirtschaft, Punch. Aber wie gewöhnlich mußte Tristan seinen Spaß haben.
»Schau dir das an, Jim«, flüsterte er eines Nachmittags und führte mich durch die Tür. »Ich habe mir ein harmloses kleines Vergnügen ausgedacht.«
»So?« Ich blickte mich verständnislos um.
Tristan sagte nichts, aber er zeigte auf den Tisch. Dort lag unter den unschuldigen Zeitschriften ein Magazin für Nacktkultur, auf dessen Titelseite eine junge Dame im Evaskostüm abgebildet war. Selbst heute hätte man im Wartezimmer eines Tierarztes darüber die Stirn gerunzelt, aber im ländlichen Yorkshire der dreißiger Jahre war es unglaublich.
»Wo zum Teufel hast du das her?« rief ich erstaunt und blätterte das Heft durch. Der Inhalt entsprach dem Titelbild. »Und was soll das überhaupt heißen?«
Tristan unterdrückte ein Kichern. »Ein Kommilitone hat es mir geschenkt. Und es ist ein Mordsspaß, wenn ich mich hier leise hereinschleiche und einen ehrbaren Bürger dabei ertappe, wie er sich
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