Der Tiger im Brunnen
schloss die Augen, als würde sie um Absolution bitten für das, was sie hier tat. Sein Fleisch, das in dieser Fülle schon fast nicht mehr menschlich aussah, lag als bleiche, reglose Masse vor ihr.
Sie zwang sich, genau hinzuschauen – und da war sie, die kleine Narbe, die der Ursprung all dieses Leidens war.
Ein Einschussloch direkt unter dem Brustbein. Eine kleine, runzlige Narbe. Eine Wunde, die sie ihm zugefügt hatte.
»Ah Ling«, flüsterte Sally.
Ihre Knie wurden weich und eine große Schwäche befiel ihre Glieder, als wäre mit einem Schlag alles Blut aus ihrem Körper gewichen. Sie musste sich an dem Eisenrahmen festhalten und für einen Augenblick sahen die beiden aus wie ein Kranker und seine sanfte, besorgte Pflegerin.
Und immer noch beobachtete sie der Affe und immer noch stieg der Rauch der Opiumzigarette in Schwaden auf…
Warum habe ich das nicht früher gesehen? Diese Augen – diese asiatischen Augen – diese Hände, breit, fleckig und blond behaart – diese Stimme – das Opium und Mr Beech – ich wollte es nicht, konnte es nicht ertragen, wollte nicht hinschauen -
»Ich dachte, Sie wären tot«, sagte Sally schließlich so leise, dass sie sich selbst kaum vernahm. »Ich dachte, ich hätte Sie in der Droschke umgebracht in jener Nacht an den East India Docks. Sie waren die ganze Zeit am Leben?«
»Nennen Sie das Leben?«, sagte er.
Ihre Ohren rauschten.
»Was ist geschehen?«, fragte sie.
»Die Kugel durchdrang meine Wirbelsäule. Meine Männer kamen vom Schiff, das ganz in der Nähe lag, und trugen mich fort. Von diesem Tag an konnte ich mich nicht mehr rühren und war nie mehr ohne Schmerzen. Sie hätten mich damals wirklich umbringen sollen. Sind Sie gekommen, um das nachzuholen? Wie ich sehe, haben sie eine Waffe in der Tasche. Es gibt nichts, was Sie noch aufhalten könnte, nach all dem.«
Sally suchte nach dem Revolver, zog ihn hervor, spannte den Hahn, und dann, zum ersten Mal in ihrem Leben, versagten ihr die Hände. Sie zitterten vor Schwäche und sie wusste, warum, wusste, dass sie ihn nicht erschießen würde, wusste, dass sie dazu nicht fähig war. Denn seine vollkommene Hilflosigkeit schützte ihn besser als eine kugelsichere Weste.
Und durch den Hass, den Zorn und die Furcht hindurch bahnte sich eine neue Erkenntnis ihren Weg – oder vielmehr eine alte Ahnung, die sich nun bestätigt hatte: So klar wie einen Faden roten Bluts erkannte sie ihren Anteil an der bedrückenden Existenz, die er in dieser furchtbaren Gefangenschaft führen musste. Sie bedauerte ihn; ja, sie hatte ihm das angetan.
Sally konnte den Revolver nicht mehr halten. Mit einem Schrei, der Zorn und Schmerz zugleich ausdrückte, schleuderte sie ihn von sich. Die Waffe traf einen Spiegel und fiel unter einem Scherbenregen zu Boden.
Die Tür ging auf.
»Irgendwo auf dem Fußboden muss ein Revolver liegen, Michelet«, sagte Ah Ling. »Heb ihn auf und erschieß damit Miss Lockhart.«
Sie schaute durch einen Tränenschleier in das Gesicht des Leibdieners. Michelet war vor Verblüffung erstarrt, dann aber machte sich ein widerliches, schadenfrohes Lächeln auf seinem Gesicht breit. Sally war zu schwach, um sich zu schützen. Sie sank neben dem Bett auf die Knie, als Michelet das Tablett mit Karaffe und Glas abstellte und sich bückte, um den Revolver aufzuheben.
Für einen Augenblick drehte er dabei dem Affen den Rücken zu.
Da schoss das Tier plötzlich wie ein Blitz von seinem Posten herunter, ergriff die brennende Zigarette auf dem Nachttischchen, sprang Michelet, als dieser sich gerade wieder aufrichten wollte, in den Nacken, packte ihn mit einer Hand am Haarschopf und drückte ihm mit der anderen die Zigarette ins Auge.
Ein Schuss krachte, dann ein Schrei Michelets. Der Leibdiener war gegen den Stahlrahmen des Bettes getaumelt, hatte Sally mitgerissen und sie zu Boden geworfen. Dort blieb sie, halb bewusstlos, liegen; sie war mit dem Kopf gegen etwas Hartes gestoßen; ihr fehlte die Kraft, sich aufzurichten –
Michelet schüttelte den Affen ab und warf ihn mit aller Kraft gegen die Wand. Das Tier fiel wie eine Stoffpuppe herunter; es war tot.
Wieder ging die Tür auf. Der Sekretär Winterhalter und der Leibarzt, beide im Morgenrock, stürzten herein, gefolgt von einem Diener – war es Alfred? Und dann hörte Sally Ah Lings tiefe, tonlose Stimme: »Diese Frau ist in mein Zimmer eingedrungen und hat versucht mich umzubringen. Winterhalter, nehmen Sie einen Diener und bringen Sie sie in den
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