Der Tiger im Brunnen
niemand kommen würde, um sie zu waschen, dass keine frische Wäsche zum Wechseln da war, dass niemand ihr jemals wieder helfen würde, dass sie für immer in dieser Dunkelheit leben musste, denn ihre Mama hatte sie verloren.
Und da begann sie, mit einem leisen Wimmern, zu weinen.
Michelet streichelte Sallys Haar. Er hatte sich die Hände mit Eau de Cologne benetzt und sich dann Hals, Brust und Arme damit eingerieben. Der süßliche Duft erregte ihr Übelkeit, ebenso wie seine gierigen Küsse.
»Ist er wach?«, flüsterte sie. »Müssen wir deshalb leise sein?«
»Er wacht sehr leicht auf. Der Arzt gibt ihm abends einen Schlaftrunk, aber auch danach kann er nicht lange schlafen. Sein Rücken bereitet ihm Schmerzen. Und der Affe sorgt auch ständig für Unruhe. Denk nicht an ihn, Louisa.«
»Armer Mann. Ich kann nicht anders. Wie wäscht er sich, wie kleidet er sich an?«
»Das mache ich für ihn. Und nicht nur das. Ein anderer Diener hilft mir, ihn hochzuheben, aber alles, was er braucht, mache ich für ihn.«
»Seit wann ist er gelähmt?«
»Warum fragst du das? Kümmere dich nicht um ihn, Louisa. Ich bin jedenfalls nicht gelähmt und du auch nicht. Schau nur, wie schön deine Haut im Schein der Kerze schimmert … Da. Lass mich deinen Arm küssen.«
Ein dumpfes Pochen, wie der gedämpfte Klang einer Trommel, ging durch Sallys Körper. Es war das Verborgene, nach dem sie suchte, das Geheimnis, das zu lüften sie hergekommen war. Und sie wehrte sich mit aller Macht gegen den Verdacht, der sich von Anfang an in ihr geregt hatte und dem sie nicht nachgehen wollte … Es war wie in einem führerlosen Zug. Sie hatte an einem Hebel gezogen und die Lokomotive hatte sich in Bewegung gesetzt, aber nun konnte sie die Bremse nicht finden. Mit zunehmender Fahrt fühlte sie sich genötigt, weitere Hebel auszuprobieren, den Zug schneller werden zu lassen, ihn vorwärtszutreiben, weil selbst ein Zusammenstoß noch besser wäre als dieses unerbittliche, hilflose Dahinrollen …
Michelets Augen waren glasig. Er war nicht mehr Herr seiner selbst. Zum ersten Mal begann Sally zu ahnen, in welche Gefahr sie sich begeben hatte, denn dieser Mann war wahnsinnig. Sie fragte sich, ob sie an den Revolver gelangen könnte, wenn sie ihn brauchte. Wo war er? Außer Reichweite.
Da hörte sie von nebenan den Zaddik rufen. »Michelet, komm her«, sagte die tiefe, brüchige Stimme.
Michelet schüttelte träge den Kopf, um wieder zu Verstand zu kommen. Er stand auf, rieb sich die Augen und streifte einen Hausmantel über, ehe er die Verbindungstür öffnete.
Sally lag still da, als der Zaddik sagte: »Ich finde keinen Schlaf, Michelet. Zünde mir eine Zigarette an und bring mir den Brandy.«
Michelet ging ins Nebenzimmer. Sally hörte, wie er dort ein Streichholz anzündete. Kurz darauf sah sie den Schein einer Gaslampe im Umkreis der Tür. Dann folgte das Geräusch eines zweiten Streichholzes für die Zigarette. Schließlich ging der Leibdiener hinunter, um den Brandy zu holen.
Der Augenblick war gekommen.
Sally griff nach ihrem Mantel mit dem schweren Revolver in der Tasche, legte ihn sich um die Schultern und stand auf. Mit zitternden Händen und schwankenden Beinen schlich sie sich, von Angst erfüllt, durch die Zwischentür in das Schlafzimmer des Zaddik.
Es war groß und luxuriös eingerichtet. Das Bett war ungewöhnlich breit und verstärkt durch einen zusätzlichen Eisenrahmen, der an den Seiten und am Kopfende heraufragte.
Hebel und Flaschenzüge waren an ihm befestigt und in der Ecke saß der Affe und beobachtete sie mit steinernem Blick. Der Zaddik lag auf dem Rücken unter einer Seidendecke, den Kopf ihr zugewandt. Seine Augen, die im Lichtschein der Lampe glänzten, schienen jenes Wissen widerzuspiegeln, das in ihrem Herzen selbst unablässig pochte.
Er sagte nichts, als sie näher kam. Der Affe rumorte leise auf dem Rahmen. Sally sog etwas vom Rauch der Opiumzigarette ein, die auf dem Aschenbecher lag, und spürte, wie das Zittern nachließ. Sie wurde ruhiger.
Er lag hilflos da und beobachtete sie.
All ihr Wissen schob sich nun mit Gewalt an die Oberfläche, der Zug bewegte sich schneller. Fast lethargisch griff sie nach der Seidendecke und zog sie fort, bis sein breiter, in ein Nachthemd gehüllter Brustkorb zum Vorschein kam. Noch immer sprach er keinen Ton, noch immer funkelten seine Augen sie an.
Sally knöpfte ihm das Nachthemd auf. Nun zitterte sie wieder. Sie presste die Handflächen aneinander und
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