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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Keller. Sie muss hinter Schloss und Riegel. Doktor, kümmern Sie sich um Michelet.«
    Michelet, der neben Sally auf dem Fußboden lag, wand sich und schrie vor Schmerzen. Durch seine Finger rann Blut. Hände griffen nach Sally, zerrten sie hoch und schleppten sie aus dem Zimmer und in den Aufzug. Dann ging es abwärts, abwärts. Ob es Alfred war, der sie festhielt, hätte sie nicht sagen können, ihre Gedanken kreisten nur um zwei Dinge: die kleine, runzelige Vertiefung im Fleisch, diese von ihr verursachte Wunde, auf die nun die so lang geplante Vergeltung folgte – und die Seite aus dem Hauptbuch, die in ihrem Strumpf steckte.
    Der Lift erreichte den Keller, man stieß sie hinaus, dann fuhr der Aufzug wieder nach oben. Wie Harriet war Sally nun in die Dunkelheit eingeschlossen, ganz allein.

 
Die Schlacht in der Telegraph Road
     
     
    Daniel Goldberg stand, von Mülltonnen flankiert, in der Gasse zwischen zwei Häusern der Telegraph Road. Das Regenwasser aus der überlaufenden Dachrinne über ihm stürzte herab, als stünde er vor den Niagarafällen.
    Nur ein schwacher Lichtschein drang hinter den Vorhängen von Parrishs Wohnzimmerfenster hervor. Das obere Stockwerk war von beiden Seiten her dunkel. Die Häuser schlossen nach hinten hinaus an die Nachbargrundstücke an. Diesen Bereich hatte Goldberg bereits ausgespäht, indem er katzengleich an der Mauer zwischen den Hinterhöfen entlanggeschlichen war. Die Häuser waren klein und schmal, kaum größer als die in Whitechapel, von denen sie sich nur durch die Erkerfenster der Wohnzimmer und durch die Stuckeinfassung der Haustüren unterschieden.
    Es war halb zwei Uhr nachts. Goldberg wollte Bill gerade noch einmal zwanzig Minuten geben, da hörte er hinter sich ein Flüstern.
    »Alles klar, Mr G?«
    Er drehte sich um und sah ein halbes Dutzend Gestalten, vielleicht sogar mehr, die sich um Bill scharten.
    »Gut gemacht«, sagte er. »Wie viele seid ihr?«
    »Wir sind zehn«, gab eine raue, irische Stimme zur Antwort.
    »Das ist Liam«, sagte Bill. Eine Hand streckte sich Goldberg entgegen und er schüttelte sie. »Wir haben Messer, Brecheisen und Schlagringe.«
    Goldberg schaute an Bill vorbei in die Dunkelheit und erkannte die Gestalt eines vielleicht sechzehnjährigen Mädchens.
    »Ist das die gefürchtete Bridie Sullivan?«, fragte er.
    Sie sagte nichts, sondern hob nur herausfordernd den Kopf. »Lass mal, Bridie«, beschwichtigte sie Liam. »Der Typ ist in Ordnung.«
    »Man hat mir gesagt, dass ihr gute Kämpfer seid«, sagte Goldberg. »Das müsst ihr jetzt beweisen. Es geht um das Haus da drüben, in dem noch Licht brennt. Drinnen ist ein kleines Mädchen gefangen, vermutlich im Obergeschoss. Das müssen wir da unverletzt herausholen.«
    Er trat einen Schritt zur Seite, damit sie an ihm vorbei auf Parrishs Haus blicken konnten.
    »Kommt man in den Hinterhof rein?«, fragte Bill.
    »Es gibt eine ähnliche Gasse wie diese, etwas weiter unten auf der rechten Seite. An der Hauswand steht ein Außenklosett oder ein Kohlenschuppen, darüber ein Fenster, dessen Vorhänge zugezogen sind. Vom Dach des Schuppens aus könnte man es gut erreichen. Allerdings weiß ich nicht, wie viele Männer im Haus sind.«
    Bill und Liam zogen sich zurück, um über die Mauer einen Blick auf das Nachbargrundstück zu werfen.
    »Bist du bewaffnet, Bridie?«, fragte Goldberg.
    »Ich hab was zum Schützen«, sagte sie. Ihre Stimme war dunkel, sanft und melodisch – die Stimme eines irischen Engels, samtig, rauchig. Die Waffe, von der sie sprach, bestand aus einer Rasierklinge mit einem hölzernen Griff.
    Bill tauchte wieder neben ihnen auf. »Eine halbe Minute, mehr brauchen wir nicht, um reinzukommen«, sagte er.
    »Gut«, sagte Goldberg. »Liam, wer von deinen Leuten kann am besten mit Pferden umgehen?«
    »Dermot«, sagte Liam und schob einen mageren Jungen von vielleicht zwölf Jahren nach vorn.
    »Dermot, ein Stück südlich der Telegraph Road gibt es einen Stall für Mietpferde. Nimm dir ein paar Jungs und holt euch eine vierrädrige Kutsche und einen ordentlichen Gaul und kommt mit doppelter Geschwindigkeit wieder hierher.«
    Sogleich lösten sich drei Jungen aus der Gruppe und verschwanden im Dunkel der Gasse. Goldberg bedeutete den Übrigen, näher zu kommen, und begann ihnen seinen Plan zu erläutern.
     
    Noch Jahre später wurde die Schlacht in der Telegraph Road von den irischen Jugendbanden in Lambeth gefeiert. Die Namen all derer, die daran teilgenommen hatten, erlangten

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