Der Tiger im Brunnen
und dann krachte ein Schuss. Mit einem Mal war alles zu Ende.
Goldberg fand sich auf dem Boden liegend wieder und wusste sofort, dass er getroffen war. Wie beim letzten Mal – weiß nicht, wo es mich erwischt hat – hoffentlich halte ich durch – Langsam kam er wieder zur Besinnung. Alles war schiefgelaufen, das wurde ihm nun klar. Der Überfall musste misslungen sein, denn jetzt kam Liam nach unten, gefolgt von Bill, und hinter ihnen ein Mann mit Harriet auf dem Arm. Er hielt ihr ein Messer an den Hals.
Bridie stand langsam neben Goldberg auf. Parrish hielt beide mit dem Revolver in Schach. Der Mann, den Goldberg niedergeschlagen hatte, rappelte sich mühsam wieder auf. Der Lärm an der Hintertür hatte aufgehört. Goldberg versuchte aufzustehen, aber als er sich auf einen Arm stützen wollte, merkte er, wo es ihn getroffen hatte: In seiner linken Schulter spürte er einen stechenden Schmerz.
Nicht lebensgefährlich. Gut. Denk nach. Drück dich ein bisschen nach rechts – lass ihm Platz, nach unten zu kommen – schau zur Tür hinüber – gut, Bill hat verstanden – Liam auch – jetzt die Klinge.
Er wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab. Er musste den Mann so am Arm treffen, dass dieser keine Zeit hatte, mit dem Messer zuzustechen. Bridie stand hinter ihm, in dem engen Flur für Parrish unsichtbar. Goldberg stellte sich schwächer, als er in Wirklichkeit war, was ihm nicht schwer fiel, und streckte seinen unverletzten Arm nach hinten, wo er Bridies Hand mit der Klinge darin fand. Er nahm sie ihr ab. Der Mann, der Harriet auf dem Arm hielt, hatte das Ende der Treppe erreicht.
Sie hielt sich bemerkenswert ruhig auf seinem Arm, aber in ihren tränenglänzenden Augen spiegelte sich das Bewusstsein, dass hier gerade etwas Schreckliches vorging. Goldberg machte sich bereit, doch er fühlte sich von dem Schock noch betäubt und die linke Schulter schmerzte ihn mehr denn je.
Vorsichtig – lass ihn die Kurve nehmen – jetzt!
Sein rechter Arm führ in die Armbeuge des Mannes. Im selben Augenblick griff Bill von der anderen Seite nach Harriet und warf sie Liam zu, der sie auffing und mit ihr davonrannte. Bridie schwang ihre Faust wütend nach Parrish, verfehlte ihn aber, denn in derselben Sekunde fiel etwas Hartes, Weißes, Porzellanartiges vom oberen Treppenabsatz und landete geradewegs auf Parrishs Kopf, wo es in tausend Scherben zerbrach. Er sackte augenblicklich zusammen, was oben wildes Gejohle auslöste. Dann kamen die anderen polternd die Treppe herunter und stießen den Mann, der Harriet gehalten hatte, aus dem Weg. Der lag stöhnend am Boden und starrte ungläubig auf seinen Arm, aus dem eine erstaunliche Menge Blut floss.
Sie zogen Bridie nach draußen. Goldberg folgte und sah eine Kutsche mit zwei vergnügten Jungen oben auf dem Bock heranpreschen. Unter dem Geklapper der Hufe und mit quietschenden Bremsen machte sie am Bordstein halt. Das Pferd wieherte, als Bill zum Wagenschlag rannte und ihn aufriss.
Liam stieg als Erster ein, mit der schreienden Harriet auf dem Arm, dann folgten Hals über Kopf die anderen –
Doch hinter ihnen krachte noch einmal ein Schuss. Bridie fiel zu Boden und blieb liegen. Liam und ein anderer Junge sprangen sofort aus der Kutsche und trugen sie hinein. Da fühlte Goldberg, wie seine Beine unter ihm nachgaben, als jemand ihn von hinten packte. Er sah, wie Bill zögerte, und rief ihm zu: »Fahrt los. Bleib du bei dem Kind! Beweg dich!«
Der Junge auf dem Bock ließ die Peitsche knallen, Bill sprang zu ihm hinauf und die Kutsche rollte davon. Parrishs Männer liefen auf die Straße, sahen aber nur noch, wie die Kutsche schaukelnd um die Ecke bog. Immerhin etwas, dachte Goldberg noch, dann verlor er das Bewusstsein.
Im Innern der überfüllten, schwankenden Kutsche jauchzten und lachten die Jungen über den gerade überstandenen Kampf und begannen bereits das Geschehen mit Einzelheiten auszuschmücken, die in der kurzen Zeit unmöglich alle hätten passieren können. Liam und ein anderer Junge kümmerten sich um Bridie.
»Schau, da«, sagte Liam. Er hob den schweren nassen Haarschopf des Mädchens und zeigte auf eine Platzwunde am Kopf. »Wenn’s nur das ist, geht’s ihr morgen schon wieder besser. Sie schnauft wie ein Walross. Kein Grund zur Beunruhigung.«
Er hob sie ein wenig an, um etwas mehr Platz zu schaffen, und strich ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht. Harriet beobachtete alles daumenlutschend. Diese Jungen lachten und sangen. Sie waren
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